Zehntausende Menschen weltweit haben schon an Studien zu Corona teilgenommen – bisher aber ging es immer darum, Impfstoffe oder mögliche Heilmittel zu testen. Nie wurden dabei Probanden vorsätzlich mit Corona infiziert. Genau das passiert nun seit dem Wochenende in einer Londoner Klinik.
Hohes Risiko für Teilnehmende der Studie
Was wiegt schwerer: neue Erkenntnisse zum Coronavirus oder erhebliche Risiken für die Gesundheit der Probanden? Die britische Ethikkommission hat den Gewinn für die Forschung höher bewertet – deutsche Fachleute sehen das anders. Das Paul-Ehrlich-Institut findet die Risiken zu hoch, auch der Verband forschender Arzneimittelhersteller lehnt solche "human-challenge"-Studien zu Corona derzeit ab. Die Vorsicht ist berechtigt: Noch immer gibt es kein Medikament, mit dem sich Covid-19 heilen lässt.
Schwere Langzeitfolgen nicht ausgeschlossen
Die Probanden sind zwar alle jung und gesund, mit 18 bis 30 Jahren ist die Gefahr eines schweren Verlaufs bei ihnen gering. Gravierende Langzeitfolgen sind aber trotzdem möglich: Auch nach leichter Erkrankung sind eine Reihe von Fällen dokumentiert, auch bei jungen, fitten Menschen. Rund 4.500 Pfund (rund 5.245 Euro) sollen die Freiwilligen bekommen; das dürfte viele zum Mitmachen motiviert haben.
Die ethische Schlüsselfrage bei dem Projekt ist klar: Kann man daraus so viel Neues über Corona lernen, dass das erhebliche Risiko der Teilnehmer sich rechtfertigen lässt? Genau das bezweifle ich. Natürlich wäre es wichtig zu wissen, wieviel Virus jemand abbekommen muss, um sich anzustecken. Und wie genau das Immunsystem dann darauf reagiert. Das wollen die Forscher im Royal Free Hospital in London herausfinden.
Versuche nicht mit britischer Virus-Mutation
Die Probanden werden steigenden Virusmengen ausgesetzt, während der Versuche sind sie im Krankenhaus in Quarantäne und werden engmaschig überwacht. Allerdings nutzen die Wissenschaftler:innen für ihre umstrittenen Versuche nicht die hochinfektiöse britische Virusmutation, die gerade frühere, harmlosere Varianten immer weiter zurückdrängt. Nein, die bis zu 90 Freiwilligen bekommen den weniger ansteckenden „klassischen“ Virustyp in die Nase getropft, der letztes Jahr noch weltweit dominierte.
Zum einen weil der Antrag für die Studie schon im vergangenen Frühjahr gestellt wurde, da waren gefährliche Mutationen noch unbekannt. Zum anderen, weil die Gefahr für die Probanden so niedriger sein soll. Was aber nutzt es, wenn wir bald im Detail wissen, welche Virusmenge bei der allmählich aussterbenden Corona-Standardversion zur Ansteckung führt?
Viel dringender müssten wir erfahren, wie sich die neuen Mutationen verhalten. Mit denen sind aber auch in England noch gar keine human-challenge-Studien zugelassen. Im Lauf des Jahres sollen zwar weitere Testreihen starten: Dann wollen die britischen Forscher:innen den Effekt von Impfstoffen der zweiten Generation mit freiwillig Infizierten testen. Auch bei diesen geplanten Versuchen ist die Aussagekraft aber fraglich: Selbst wenn sich Impfstoff-Kandidaten bei fitten Probanden unter 30 bewähren – was bringt uns das? Über die Wirksamkeit bei Älteren und kranken Menschen werden diese riskanten Versuche nichts aussagen.