Umstrittene Studie

Algorithmus berechnet Todeszeitpunkt von Pflegebedürftigen

Stand
AUTOR/IN
Ulrike Till
ONLINEFASSUNG
Ralf Kölbel

Ein kanadisches Forscher*innenteam hat einen Online-Rechner entwickelt, der angeblich den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt von Pflegebedürftigen vorhersagen kann. Wie funktioniert der Rechner und wie problematisch ist er aus ethischer Sicht?

Dass alte Menschen nicht ewig zu leben haben, ist klar – aber ob es nur noch Monate oder eher Jahre sind, ist oft unklar. Vor allem bei Senioren, die schon viel Pflege brauchen. Der von kanadisches Forscherinnen und Forschern entwickelte Online-Rechner soll dabei helfen, bei Pflegebedürftigen in etwa vorherzusagen, wie lange sie noch zu leben haben. Die Ergebnisse wurden gerade im Fachblatt „Canadian Medical Association Journal“ veröffentlicht. Klingt bizarr und bedenklich? Unsere Medizinredakteurin Ulli Till hat sich die Studie und Reaktionen deutscher Expert*innen darauf angeschaut.

Ein Online-Rechner zur Sterbeprognose – ist das nicht ausgesprochen makaber?

Das war auch meine erste Reaktion – so ein Unsinn, wer will das überhaupt wissen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Im Prinzip könnte so eine Berechnung schon einen gewissen Nutzen haben. Genau deshalb hat die kanadische Forscher*innengruppe den Algorithmus auch entwickelt. Der Online-Rechner soll Angehörigen und Pflegeeinrichtungen dabei helfen, alte Menschen am Lebensende bestmöglich zu versorgen.

Wenn zum Beispiel bei Krebspatient*innen belastende Behandlungen nichts mehr bringen, könnten sie weggelassen werden; dann müsste eine gute palliative Betreuung starten. Auch für Angehörige könnte es gut sein zu wissen, wann sie voraussichtlich mehr Zeit als üblich für die Pflege brauchen werden. Oder ob man eine letzte gemeinsame Reise besser schnell planen sollte. Es geht vor allem darum, Senior*innen in der letzten Lebensphase optimal zu unterstützen - es ist eben nur sehr fraglich, ob sich das mit so einer Online-Prognose erreichen lässt.

Die Uhr wird für jeden Menschen irgendwann ablaufen. Zumindest bei Pflegebedürftigen wollen Forschende aus Kanada jetzt den voraussichtlichen Todeszeitpunkt mit einem Online-Rechner berechnen lasssen. (Foto: IMAGO, imago/Panthermedia)
Die Uhr wird für jeden Menschen irgendwann ablaufen. Zumindest bei Pflegebedürftigen wollen Forschende aus Kanada jetzt den voraussichtlichen Todeszeitpunkt mit einem Online-Rechner berechnen lasssen.

Wie funktioniert dieser Online-Rechner?

Die praktische Anwendung ist verblüffend simpel: wenn man im Internet nach „Elder life calculator“ sucht, landet man auf einer rosafarbenen Website, die eher aussieht als wäre sie für Kinder gemacht und nicht für Senioren. „Wollen Sie wissen, wie lange Sie leben werden?“ ist die Eröffnungsfrage, kleingedruckt weiter unten kommt dann der Hinweis, dass der Rechner nicht die Zukunft eines einzelnen Individuums vorhersagen kann. Man muss nur 12 simple Fragen beantworten, zu Vorerkankungen natürlich, aber auch zu Ausbildung und möglichen Problemen im Alltag.

Kanadische Forschende haben einen Online-Rechner entwickelt, mit dessen Hilfe sich bei Pflegebedürftigen berechnen lässt, wie lange diese voraussichtlich noch leben. (Foto: IMAGO, imago images / Panthermedia)
Kanadische Forschende haben einen Online-Rechner entwickelt, mit dessen Hilfe sich bei Pflegebedürftigen berechnen lässt, wie lange diese voraussichtlich noch leben.

Und bekommt man dann ein Sterbedatum genannt?

Nein, das wäre auch wirklich zu heftig. Das Ergebnis kommt nicht als Datum, auch nicht als konkrete Prozentzahl. Ich habe es mal mit fiktiven Daten ausprobiert – dann hieß es am Ende: „andere mit Deinen Antworten haben noch länger als 5 Jahre gelebt“. Drunter stand dann: 25% haben kürzer, 25% länger als 5 Jahre gelebt.

Man kann aber auch den Schalter „Datum“ aktivieren, dann wird es schon ziemlich konkret. Herbst 2027 kam da bei meiner fiktiven Beispielrechnung raus. Es kann aber auch sein, dass man eine restliche Lebenserwartung von unter vier Wochen prognostiziert bekommt, das wäre natürlich ein Riesenschock für die Betroffenen.

Wie belastbar sind diese Ergebnisse?

Die Autor*innen sagen selbst, dass ihr Online-Rechner Schwächen hat, deshalb wird er auch gerade überarbeitet. Für grobe Abschätzungen könnte er aber schon funktionieren. Der Algorithmus beruht im wesentlichen auf Daten von fast einer halben Million Seniorinnen und Senioren, die zwischen 2007 und 2013 in Ontario zu Hause gepflegt wurden. Von allen gab es detaillierte Gesundheitsinformationen nach dem in Kanada üblichen System – das ist ein sehr detaillierter Fragebogen, mit dem in vielen Ländern der Pflegebedarf erhoben wird.

In Deutschland kommt diese Bewertung allerdings nicht zum Einsatz. Auch deshalb ist nicht klar, wie gut sich die Ergebnisse übertragen lassen. Allerdings ist eine Beobachtung des Forscher*innenteams schon sehr interessant und vermutlich international gültig: Wenn alte Menschen plötzlich Schwierigkeiten im Alltag haben, also etwa beim Anziehen, beim Kochen oder der Hausarbeit, dann ist das ein Alarmzeichen. Und es wiegt für das nächste halbe Jahr schwerer als Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck.

Frau sitzt im Pflegebett (Foto: IMAGO,  imago images/Panthermedia)
Es gibt Alarmzeichen, die auf einen früheren Todeszeitpunkt hinweisen können.

Was sagen deutsche Fachleute zu dem Vorstoß aus Kanada?

Da überwiegt ganz klar die Skepsis. Ein wichtiger Einwand ist zum Beispiel, dass so eine konkrete Sterbeprognose Betroffenen auch jeglichen Lebensmut rauben kann. Wer erfährt, dass er wahrscheinlich nur noch drei Monate vor sich hat, kann ja leicht verzweifeln und sich gleich aufgeben. Auch bei Pflegekräften könnte die Motivation sinken, Versicherungen könnten teure Leistungen vorenthalten. Das wäre dann genau das Gegenteil von dem, was die Erfinderinnen und Erfinder des Online-Rechners sich erhoffen.

Dr. Annette Rogge, Klinische Ethikerin am Uniklinikum Schleswig-Holstein sagt daher, dass solche Risikoberechnungen aktuell keinen Nutzen bringen. Sie weist auch darauf hin, dass das Kriterium „Todeszeitpunkt“ für den Start einer Palliativ-Versorgung problematisch ist: Entscheidend sei immer die individuelle Situation. Ganz ähnlich argumentiert auch der Bremer Pflegeforscher Professor Stefan Görres: Welche Versorgung ein Mensch am Lebensende braucht, erkennt eine professionelle Pflegekraft auch ohne Algorithmus, so sein Fazit.

Und er warnt davor, das Lebensende mit einer Art „Sterbe-Management“ durchzuorganisieren. „Sterben soll in Würde stattfinden können“, so Görres. Zum Glück gibt es im Moment auch keinerlei Anzeichen dafür, dass der kanadische Sterberechner in absehbarer Zeit im deutschen Pflegesystem zum Einsatz kommt. Und auch in Kanada ist der Ansatz hoch umstritten – mal sehen, wie sich die Gesundheitsbehörde dort entscheidet.

Sterben sollte in Würde stattfinden können. Berechnete Todeszeitpunkte könnten für manche Menschen ein falsches Signal geben. (Foto: IMAGO,  imago images/photothek)
Sterben sollte in Würde stattfinden können. Berechnete Todeszeitpunkte könnten für manche Menschen ein falsches Signal geben.
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