Psychologie

Achtsamkeitstraining kann egoistisch machen

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AUTOR/IN
Julia Otto

Achtsamkeit hat eine positive Auswirkung auf die Persönlichkeit. Eine Studie von Forschenden der University Buffalo zeigt die überraschenden Schattenseiten der Achtsamkeit auf.

Achtsamkeit bedeutet, geistesgegenwärtig sein. Der Mensch ist hellwach und erfährt seine direkte Umwelt, sein Gemüt und seinen Körper. Dabei wird er nicht von Gedankenströmen, Emotionen oder Erinnerungen abgelenkt. Achtsamkeitstraining wirkt sich – das zeigen viele Studien – positiv auf die Persönlichkeit aus und gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Forschende der University Buffalo (USA) zeigen in ihrer Studie aber die überraschende Kehrseite von Achtsamkeit auf ein prosoziales Verhalten – das hilfreiche Verhalten anderen Menschen gegenüber:

Achtsamkeit kann egoistisch machen.

Abhängige- und unabhängige Denkweise

Man unterscheidet zwischen einer abhängigen und einer unabhängigen Denkweise, die sich im Achtsamkeitstraining unterschiedlich auf ein prosoziales Verhalten auswirken.

  • "Abhängig" bedeutet eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Personen. Das Verhalten der einen Person beeinflusst also das Verhalten der anderen Person und umgekehrt. Menschen in ostasiatischen Ländern zum Beispiel sehen sich eher voneinander als abhängig und haben eher ein Wir-Bewusstsein. Michael Poulin vermutet, dass die Achtsamkeit dort eindeutig prosozialer ist.
  • "Unabhängig" bedeutet, dass die Menschen viel Wert auf Freiheit, Privatheit und emotionale Unabhängigkeit legen. In westlichen Ländern sehen sich die meisten Menschen als unabhängig, sie haben also ein Ich-Bewusstsein. Hier könnte Achtsamkeit deshalb zu weniger prosozialem Verhalten führen.
Achtsamkeit kann egoistisch machen (Foto: IMAGO,  imago images/Westend61)
Achtsamkeitstraining liegt derzeit im Trend. Man fühlt sich weniger gestresst, entspannter. Aber eine neue Studie zeigt auch: Achtsamkeitstraining kann egoistisch machen.

Michael Poulin erklärt aber auch, dass es trotz dieser individuellen und kulturellen Unterschiede auch eine Variabilität innerhalb jeder Person gebe. Es seien nur Momentaufnahme, jedes Individuum könne zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich handeln und sich demnach entweder im Ich-Bewusstsein oder im Wir-Bewusstsein sehen.

Die Studie der University Buffalo

In einem ersten Schritt der Studie bestimmten die Forschenden in der Kontrollgruppe, ob die Teilnehmenden eine abhängige oder unabhängige Denkweise haben. In einem weiteren Experiment übten sie mit Proband:innen gezielt ein, sich abhängig oder unabhängig zu sehen – es wurde also nicht einfach eine Eigenschaft gemessen. Mit beiden Gruppen wurde dann eine Achtsamkeitsübung durchgeführt. Um herauszufinden, wie prosozial, also hilfsbereit und konstruktiv, sich die Probanden verhalten, haben die Forschenden sie darüber informiert, eine wohltätige Organisation unterstützen zu können.

Spende  (Foto: IMAGO, imago/Christian Ohde)
Bei den Personen, die zur Unabhängigkeit neigen, führt Achtsamkeit zu einem verringerten prosozialen Verhalten. Sie setzen sich weniger gern freiwillig für eine wohltätige Organisation ein.

Sowohl in der Kontrollgruppe, als auch in der Gruppe, die sich in der Übung unabhängig sehen sollte, führte eine unabhängige Denkweise im Achtsamkeitstraining zu weniger prosozialem Verhalten - also zu weniger wohltätiger Unterstützung der Organisation. Die Wahrscheinlichkeit, sich freiwillig zu melden, sank um 33 Prozent bei Personen, die sich durch die Übung unabhängig gesehen haben. Eine abhängige Denkweise führte in beiden Fällen zu einem prosozialerem Verhalten. Die Wahrscheinlichkeit, sich wohltätig zu engagieren, stieg um 40 Prozent bei denjenigen, die sich abhängig gesehen haben.

Erkenntnisse aus der Studie

Mit dem richtigen Achtsamkeitstraining können nicht nur positive persönliche, sondern auch positive soziale Ergebnisse erreicht werden. Um das zu erreichen, muss man sich in der Achtsamkeit also auch in Bezug auf seine Beziehungen und Gemeinschaften sehen.

Poulin ist Experte für Stress, Bewältigung und prosoziales Verhalten und betont, dass nicht die Wirksamkeit der Achtsamkeit demontiert wird. Die Studie zeige aber, dass das Achtsamkeitstraining kein "Rezept" sei, man müsse das Training individuell anpassen, um negative Auswirkungen auf das prosoziale Verhalten zu verhindern.

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das Beste aus der Achtsamkeit herausholen können. Wir müssen wissen, wie wir das Werkzeug einsetzen können.

Meditation - Achtsamkeit (Foto: IMAGO, imago images/Cavan Images)
Achtsamkeit und Meditation steigern das emotionale Wohlbefinden, Stress und Ängste hingegen werden verringert. Eine unabhängige oder eine abhängige Denkweise spielen im Achtsamkeitstraining allerdings eine Rolle.
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