Frustriertes Kind (Foto: IMAGO, imago images / blickwinkel)

ARD Themenwoche Bildung

Wie ungerecht ist unser Schulsystem?

Stand
INTERVIEW
Klaus Klemm
ONLINEFASSUNG
Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)

Die soziale Herkunft von Kindern spielt in Deutschland immer noch eine große Rolle. Kinder aus armen Familien oder mit Migrationsgeschichte haben weniger Erfolg in der Schule.

Wer arme Eltern hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit selbst auch arm. Das ist seit Jahrzehnten bekannt, doch geändert hat sich bis heute nicht viel daran. Professor Klaus Klemm forscht seit Jahren über den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen:

Wir haben eine eindeutige Schlechterstellung von Kindern aus sozial schwächeren Familien, aus Familien, die eine Migrationsgeschichte haben.  Diese Befunde haben wir seit den 60er Jahren immer wieder erhoben.

Bildungsungleichheit ist grundgesetzwidrig

Klaus Klemm spricht lieber von Bildungsungleichheit statt von Bildungsgerechtigkeit. Denn gerade diese starke Ungleichheit zwischen den Menschen in diesem Land sei grundgesetzwidrig.

Um Bildungsgerechtigkeit zu messen, wird oft die Zahl derer herangezogen, die einen Hochschulabschluss machen. Das sind derzeit ungefähr 70 Prozent Absolventen aus Akademikerhaushalten und rund 30 Prozent Absolventen aus sozial schwächeren Familien. Hier besteht ein deutliches Ungleichgewicht.

Der Hochschulabschluss ist aber nur das Ende eines sehr langen Prozesses. Ungleichheit ist auch schon in vielen Stufen unterhalb des Hochschulabschlusses zu beobachten. Bei der Entscheidung: bekomme ich einen Hauptschulabschluss, bekomme ich eine Lehrstelle…

Warum Akademikerkinder im Vorteil sind

Es gibt einige Gründe, warum Akademikerkinder am oberen Ende der Bildungskette tatsächlich in der Mehrheit sind:

  • Es geht los mit der Frage: Bekomme ich einen Krippenplatz oder nicht. Der Krippenplatz ist besonders wichtig für Kinder mit Migrationshintergrund, denn da wird im sprachlichen Bereich schon gefördert. Dann geht es weiter mit dem Kindergarten und dann kommt die nächste Stufe: Schule.
Kinderkrippe (Foto: IMAGO, imago images / epd)
Ein Krippenplatz ist besonders wichtig für Kinder mit Migrationshintergrund, denn dort können sie schon ganz früh sprachlich gefördert werden.
  • Ganz gravierend verantwortlich für meine Bildungschancen ist auch der Wohnort, in dem ich aufwachse. Ob ich zum Beispiel im Ruhrgebiet in einer Stadt im Süden aufwachse, wo es bürgerlich geprägt ist oder im Norden, wo früher die Bergarbeiter und heute mehrfach die Zugewanderten wohnen, das entscheidet schon über meinen Bildungsweg.
  • In Akademikerfamilien erhalten Kinder mehr Hilfe von zu Hause. Für sie ist es zu Beispiel nicht so schlimm, wenn der Unterricht mal ausfällt. Die Eltern können das auffangen. In Familien, in denen das nicht stattfinden kann, haben die Kinder Nachteile.
Eltern-Nachhilfe (Foto: IMAGO, imago images / epd)
Akademikerfamilien können ihren Kinder in der Schule mehr helfen als Eltern aus sozial schwachem Milieu.

Das Bildungssystem verstärkt vorhandene Ungleichheit noch

Klemm kritisiert, dass unser Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Schulabschluss die vorhandene Ungleichheit noch befördert:

Wir wissen, dass Kinder am Ende der vierten Klasse bei gleichen Leistungen unterschiedliche Empfehlungen in Richtung Gymnasium oder Hauptschule erhalten, je nachdem aus welchem Milieu sie kommen. So bekommen Kinder aus sozial schwachen Schichten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium. Da verstärkt Schule die in den Familien generierte Ungleichheit noch mal ganz massiv.

Schule darf Ungleichheit nicht verstärken

Klemm räumt ein, dass das Schulsystem allein die Mängel der Gesellschaft nicht beheben kann. Er fordert jedoch: Die Schule darf die Ungleichheit aber nicht verschärfen. Sie darf nicht verhindern, dass Kinder den Weg gehen, den sie gehen könnten. Genau das tut sie aber, wenn Kindern mit der gleichen Leistung unterschiedliche Empfehlungen für die weiterführende Schule ausgestellt werden- je nach Herkunft.

Schule (Foto: IMAGO, imago images / Westend61)
Kinder mit der gleichen Leistung erhalten unterschiedliche Empfehlungen für die weiterführende Schule - je nach Herkunft.

Kann die Gemeinschaftsschule helfen?

Bildungspolitiker propagieren häufig die Gemeinschaftsschule als Heilmittel. Dort können Schülerinnen und Schüler aus allen sozialen Schichten und über unterschiedliche Lernniveaus hinweg länger zusammen lernen.

Doch hinter dem Begriff Gemeinschaftsschule verbirgt sich in jedem Bundesland etwas anderes. In Baden-Württemberg ist es ein Schultyp, die neben Realschulen, neben den Gymnasien und neben den Werkrealschulen existieren. Bildungsexperte Klemm warnt, in Baden-Württemberg seien Gemeinschaftsschulen in der Regel relativ kleine Schulen, in denen kaum gymnasial geeignete Kinder lernten. Deshalb zieht er das Fazit:

Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg hilft nicht, die Bildungsungerechtigkeit abzuschwächen.

Bildungsungleichheit fängt schon bei der Verteilung von Krippenplätzen an

Klemm fordert statt dessen viel früher anzusetzen. Bereits bei der Verteilung der Krippenplätze. Denn derzeit erhielten Kinder aus sozial schwächeren Familien viel seltener einen Krippenplatz als Kinder aus besser gestellten Milieus.

Stand
INTERVIEW
Klaus Klemm
ONLINEFASSUNG
Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)