Geografie

Wie sehen kognitive Landkarten aus?

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

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Geografische Räume im Kopf abspeichern

Mit dem Begriff "kognitive Karte" – englisch "mental map" – wird die Art bezeichnet, wie wir geografische Räume – also Orte, Landschaften, Länder – im Kopf abgespeichert haben – unsere innere Landkarte.

Wenn ich mir die Route zu meiner Arbeit oder in meinen Lieblingsurlaubsort vorstelle oder sie aus dem Kopf zeichnen würde, oder die wichtigsten Orte in meinem Landkreis! – Wie sieht das aus? Natürlich bei jedem anders, aber es gibt paar universelle Effekte bei solchen mentalen Landkarten.

Verzerrung: vertraute Gebiete nehmen in der Vorstellung mehr Raum ein

Der erste ist die Tendenz zur Verzerrung. Eine echte Landkarte hat in der Regel einen ein­heitlichen Maßstab: Gleiche Abstände auf der Karte entsprechen gleichen realen Entfernungen. In kognitiven Karten ist das anders. Vertraute Gebiete nehmen in ihnen einen deutlich größeren Raum ein als fremde.

In der kognitiven Karte eines Frankfurters erscheint Frankfurt sehr viel größer als in der kognitiven Karte einer Neapolitanerin. Einfach deshalb, weil der Frankfurter viele Plätze, Straßen und Viertel seiner Stadt kennt und diese Details entsprechend viel Platz in seiner kognitiven Karte beanspruchen.

Viele kennen die berühmte Karikatur mit der Überschrift "The New Yorker" des Grafikers Saul Steinberg. Das ist ein Musterbeispiel für eine kognitive Karte: Im Vordergrund sieht man die Straßen von Manhattan, dahinter den Hudson River, dahinter den Rest der USA: Eingegrenzt von kanadischer und mexikanischer Grenze ragen ein paar Berge in die Höhe. Dieser Rest der USA ist etwa so groß dargestellt wie die Häuserblocks zwischen 9th Avenue und Hudson River. Hinter den USA schließlich beginnt, kaum breiter als der Hudson River, der Pazifik. Und am Horizont, gerade noch erkennbar als kleine Flecken: China, Japan und Russland.

Karte des Abendlandes aus dem 15. Jahrhundert. Illustration von Günther Zainer (1472) (Foto: IMAGO, IMAGO / Artokoloro)
Karte des Abendlandes aus dem 15. Jahrhundert. Illustration von Günther Zainer (1472)

Begradigung: "krumme" Flüsse werden gerade

Auch in diesem Bild sind die Verhältnisse also völlig verzerrt, aber es zeigt noch einen weiteres Merkmal kognitiver Karten, nämlich die Tendenz zur Begradigung von Linien. Zeichnen Sie einmal die wichtigsten Straßen, Täler und Flüsse Ihrer Umgebung aus dem Kopf und vergleichen Sie Ihr Bild mit der Darstellung im Straßenatlas! Oder zeichnen Sie die Umrisse von Europa. – Sie werden feststellen, dass Sie viele Linien "begradigt" haben. Darüber hinaus haben Sie vermutlich etliche dieser geradlinigen Abschnitte "eingenordet", sie also als waagerechte oder senkrechte Linien in Nord-Süd- bzw. Ost-West-Richtung ausgerichtet, obwohl sie vielleicht in Wirklichkeit in Nord-West- oder Süd-Süd-Ost-Richtung verlaufen.

Ein schöner Test übrigens: Stellen Sie sich ein Schiff vor, dass durch den Panamakanal vom Pazifik in den Atlantik fährt. Fährt es von Westen nach Osten oder von Osten nach Westen? Für die meisten Menschen ist die Antwort überraschend: Wer vom Pazifik zum Atlantik fährt, bewegt sich im Panamakanal von Osten nach Westen. Das erwarten wir nicht, denn vor unserem geistigen Auge ist der Pazifik links, also im Westen, und der Atlantik ist rechts. Wenn man also im Kanal Mittelamerika durchquert, müsste man doch von links nach rechts fahren. Aber: Mittelamerika ist eben nicht einfach eine gerade Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika, sondern macht in der Höhe von Panama einen Bogen, der genau dort die Verhältnisse umgekehrt.

Übergroß: zentrale Punkte ragen heraus

Neben diesen zwei Effekten – Verzerrung und Begradigung – haben kognitive Karten noch eine dritte Eigenschaft: Gewisse markante Merkmale einer Gegend sind übergroß repräsentiert. Das, was wir für wesentlich oder "typisch" halten oder auch wichtige Orientierungspunkte, stechen in unseren kognitiven Karten stark hervor. Und wenn wir eine Großstadt bereisen, nehmen in unserer kognitiven Karte die Innenstadt und die zentralen Plätze einen übergroßen Raum ein im Vergleich zur Peripherie der Stadt, die meist um ein Vielfaches größer ist.

Interessant ist bei kognitiven Karten, dass wir sie aus zwei Arten von Informationen zusammensetzen. Zum einen unseren persönlichen Erfahrungen, also wie wir eine Gegend selbst buchstäblich er-fahren haben. Zum anderen aus unserem geografischen Wissen, das wir uns vor allem anhand von Landkarten aneignen: Wir haben eine Vorstellung, wie Europa aussieht, Nicht, weil wir persönlich die Küste vermessen hätten, sondern weil wir Europa schon oft auf einer Karte gesehen haben.

Kognitive Karte entsteht aus Erfahrungen und Überblickswissen

Und wenn wir in einem Zug von Freiburg nach Berlin unterwegs sind, dann besteht diese Reise in unserem Kopf nur zu einem Teil aus dem, was wir entlang der Strecke tatsächlich sehen, den Bahnhöfen, Wäldern, Mülldeponien und Fabrikparkplätzen. Zu einem mindestens ebenso großen Teil fließen unsere geografischen Kenntnisse in die kognitive Karte unserer Reise ein: Wir wissen, dass unsere Reise erst durch die Rheinebene führt, dann an diversen deutschen Mittelgebirgen vorbei ins Norddeutsche Tiefland bis an die Spree. Wir wissen, dass wir von Südwesten nach Nordosten reisen, und zumindest die Älteren von uns werden vielleicht daran denken, dass sie unterwegs die ehemalige deutsch-deutsche Grenze passieren.

Unsere kognitive Karte besteht somit aus einer Überlagerung von primären Erfahrungen und sekundär angeeignetem Überblickswissen. Das alles zeichnet kognitive Karten aus.

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