Gesellschaft

Werden die Menschen immer narzisstischer?

Stand

Von Autor/in Leon Wenz

Gibt es eine Narzissmusepidemie?

Aus heutiger Sicht lautet die Antwort "Nein". Früher wurde aber das Gegenteil behauptet. Das ging los mit dem Soziologen Christopher Lasch. Der veröffentlichte 1979 einen Bestseller mit dem Titel "Das Zeitalter des Narzissmus". Er spricht in seinem Buch davon, dass Egoismus, Selbstdarstellung und Empathielosigkeit in unserer Gesellschaft immer weiter zunehmen. Als Grund sieht er einen übermäßigen Fokus auf Individualismus, Selbstverwirklichung und Konsum.

Allerdings waren das offenbar mehr persönliche Eindrücke, entscheidend sind aber valide Daten. Den ersten großen Versuch einer quantitativen Untersuchung unternahm die Psychologin Jean Twenge: 2008 veröffentlichte sie mit ihrem Team eine Studie, die auf einem psychologischen Fragebogen beruht. Der wurde in den Jahren 1982 bis 2006 von über 16.000 Studierenden an verschiedenen Universitäten ausgefüllt.

NPI-Fragebogen bis heute in der Forschung weit verbreitet

Bei dem Fragebogen handelte es sich um das "Narcissistic Personality Inventory" kurz "NPI". Er ist bis heute in der Forschung weit verbreitet.

Den Test muss man sich so vorstellen: Die Versuchspersonen bekommen immer zwei mehr oder weniger gegensätzliche Aussagen vorgestellt. Beispielsweise die Aussage "Ich habe gern Autorität über andere" und die Aussage "Es macht mir nichts aus, Anordnungen zu befolgen". Die Versuchspersonen müssen 40-mal den Satz wählen, der am ehesten zutrifft – "Forced Choice" nennt sich das. Im Anschluss bilden Psychologen auf Basis aller gewählten Sätze einen Summenscore. Bei dem gilt vereinfacht gesagt: je höher die Zahl, desto narzisstischer.

Man kann sich das wie eine hierarchische Pyramide vorstellen. Unten stehen 40 Fragen, in der Mitte 6 Subskalen und oben, an der Spitze, das Konstrukt "Narzissmus". Alle 40 Fragen stehen in einem positiven oder negativen statistischen Zusammenhang zu den 6 Subskalen. Das sind beispielsweise Autoritätsanspruch, Angeberei und Manipulationsneigung. Und die stehen wiederum in einem positiven Zusammenhang zum Narzissmus.

Untersuchung von 2008 schien Narzissmusepidemie zu bestätigen

Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Bei hohen Werten in nur einer von sechs Subskalen wie "Autoritätsanspruch" würde man noch nicht von einem narzisstischen Menschen sprechen. Die Summe aus allen 6 Subskalen ist entscheidend. 

Genau "die" hat Twenge über viele Jahre untersucht und sie kam zu dem Ergebnis: Die narzisstischen Persönlichkeitsmerkmale nehmen zu. Jede Generation sei narzisstischer als ihre Vorherige.

Aber schon kurz nach der Veröffentlichung haben einige die Studie infrage gestellt. Sie würde zu sehr verallgemeinern. Das hat Jean Twenge aber nicht davon abgehalten, die populärwissenschaftlichen Bücher The Narcissism Epidemic und Generation Me zu schreiben. Beide waren Bestseller. So kam die Idee einer angeblichen narzisstischen Epidemie in die Welt.

Eine narzisstische Epidemie gibt es wohl nicht – im Gegenteil

In der Wissenschaft blieb das aber umstritten. Und im Oktober 2024 erschien eine umfangreiche Metastudie, die für Klarheit sorgte: Eine Forschungsgruppe aus Wien hatte über 1.000 Studien analysiert, in denen der NPI-Fragebogen verwendet wurde. Dabei wertete sie die Daten von knapp 550.000 Menschen aus. Die Forschungsgruppe kam zu dem Schluss, dass es eine narzisstische Epidemie nie gegeben hat – auch nicht in Nordamerika. Zwar sind die Werte dort höher als beispielsweise in Europa oder Asien, aber zwischen 1982 und 2023 konnte kein signifikanter Anstieg festgestellt werden – im Gegenteil, die Werte scheinen sogar rückläufig.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auf Grundlage der heute vorliegenden Daten und der verwendeten Messinstrumente zur Erfassung von Narzissmus, lässt sich über die Generationen kein Anstieg feststellen. 

Quellen und Literatur

Psychologie Sind jüngere Menschen narzisstischer als ältere?

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