Sind die Ostfriesen wirklich Weltmeister im Teetrinken?
Das liest man zwar überall und ich habe diese Behauptung in früheren Berichten auch ungeprüft übernommen. Laut Deutschem Teeverband trinken die Ostfriesen pro Kopf 300 Liter Schwarz- und Grüntee im Jahr und demnach mehr als die Menschen in Libyen (287 Liter) und der Türkei (277 Liter), die nach Angaben des Internationalen Teehandelsverbands ITC die Rangliste im Ländervergleich anführen.
Wer schon mal in Ostfriesland war, weiß, dass dort viel Tee getrunken wird. Trotzdem gibt es mehrere statistische Gründe, den angeblichen Weltrekord infrage zu stellen.
Statistische Rosinenpickerei
Der erste Grund ist: Die Türkei ist ein Staat, Ostfriesland eine Region. Da geht die statistische Rosinenpickerei schon los: Eine deutschen Region, von der man weiß, dass dort sehr viel Tee getrunken wird, zu vergleichen mit einem Durchschnittswert anderer Staaten. Dabei gibt es innerhalb dieser großen Länder ebenfalls regionale Unterschiede. An der türkischen Schwarzmeerküste, wo Tee angebaut wird, dürfte der Verbrauch höher liegen als im Rest der Türkei. Und wenn er nur 10 Prozent höher läge als der türkische Durchschnitt, könnten die Schwarzmeerküstenbewohner den Ostfriesen den Weltmeistertitel streitig machen.
Doch auch an der Zahl von 300 Litern pro Kopf drängen sich Zweifel auf.
Wie der Teekonsum berechnet wird
Denn wie werden diese Verbrauchszahlen überhaupt ermittelt? Das Internationale Teekomitee (ITC) hat dafür eine einfache Formel: Wie viel Tee importiert ein Land? Wie viel Tee produziert es selber? Das wird addiert, und davon abgezogen wird die Menge, die ein Land exportiert. Daraus ergibt sich die Summe an Teepulver in Tonnen, die in einem Land bleibt und naheliegenderweise von den dortigen Bewohnern in flüssiger Form konsumiert wird. Aus einem Kilogramm entstehen ungefähr 90 Liter Tee, das ist die gängige Umrechnungsformel. Im Fall von Ostfriesland kommt man dann auf 140 Millionen Liter Tee, die sich auf knapp 470.000 Einwohner verteilen. Macht ziemlich genau 300 Liter pro Ostfriese und Jahr.
Statistische Falle beim "Pro-Kopf"-Verbrauch
Das klingt erstmal plausibel, aber wenn man auf diese Weise einen Pro-Kopf-Konsum ermittelt, kann man leicht in eine statistische Falle tappen. Für die gibt es ein Lehrbuchbeispiel aus der Statistik: Welches Land hat die höchste Kriminalitätsrate. Antwort: Der Vatikan. Warum? Weil der Petersplatz viele Besucher und viele Taschendiebe anlockt. Hunderte Delikte werden dort pro Jahr gemeldet. Aber der Vatikan hat offiziell nur knapp 500 Einwohner. Die Kriminalitätsrate ist aber per Definition die Zahl der Delikte geteilt durch die Zahl der Einwohner. Wenn man so rechnet, kommt man beim Vatikan im Schnitt auf ein Verbrechen pro Einwohner. Also wäre fast jeder Vatikan-Bewohner – aber nur deshalb weil die vielen Besucher bei der Berechnung der Kriminalitätsrate unter den Tisch fallen.
In diese Falle kann man auch tappen, wenn man den Teekonsum in Ostfriesland errechnet. Denn auch Ostfriesland hat überdurchschnittlich viele Urlauber im Verhältnis zur Einwohnerzahl. In Ostfriesland wohnen 460.000 Menschen, aber zusätzlich halten sich zwischen Emden und Norderney 100.000 Touristen auf. Die trinken aber ebenfalls Tee, das gehört schließlich dazu, oder sie kaufen als Mitbringsel für sich oder andere Ostfriesentee, den sie für sich oder für andere nach Hause mitnehmen. Wenn diese Urlauber nicht berücksichtigt werden, sondern man die Teemenge nur durch die Zahl der Einwohner teilt, erscheint der Pro-Kopf-Verbrauch in Ostfriesland höher als er tatsächlich ist. Der Effekt ist natürlich nicht so krass wie bei der Kriminalitätsrate des Vatikan, kann aber durchaus 10 bis 20 Prozent ausmachen.
"Ostfriesischer" Teekonsum findet auch außerhalb Ostfrieslands statt
Ein weiterer Fehler kann auftauchen, wenn die veranschlagte Teemenge größer ist als es der Realität entspricht. Auch das ist hier sehr wahrscheinlich der Fall. Denn ermittelt wird diese Zahl regulär über die Differenz aus Import und Export. Doch die großen ostfriesischen Teehäuser schicken ihren Tee auch an Läden oder Endkunden außerhalb Ostfrieslands, ohne dass dies offiziell als "Export" irgendwo registriert wird. Der größte Teehändler Bünting etwa verkauft ein Drittel seines Tees über Teegeschäfte außerhalb Ostfrieslands. Plus über den Online-Versand an Endkunden an Deutschland und im Ausland. Dieser Online-Versand macht nach Angaben von Bünting 6 Prozent des Absatzes aus.
Zähler zu groß, Nenner zu klein – das treibt den "Teeverbrauch" in die Höhe
Werden diese Fehlerquellen nicht berücksichtigt, würde das bedeuten: In Ostfriesland verbleibt weniger Tee als offiziell ausgewiesen, und dieser Tee wird auch noch von deutlich mehr Menschen konsumiert als nur von den Einwohnern. In der Rechnung: Menge pro Kopf wird also der Zähler zu groß und der Nenner zu klein angesetzt. So würde der offizielle Teeverbrauch künstlich in die Höhe geschraubt. Und selbst wenn es jeweils nur 10 Prozent sind, macht das schon fast 20 Prozent Unterschied. Statt 300 Liter pro Kopf läge der Verbrauch bei nur 240 Litern, und das wäre noch vorsichtig gerechnet.
Der Verdacht, dass wirklich falsch gerechnet wurde, liegt nahe, denn erstens entsprechen die angeblichen 300 Liter pro Kopf ja genau der Zahl, die herauskommt – wenn man also die offizielle Teemenge durch die offizielle Zahl der Einwohner teilt und somit die Fehlerquellen nicht berücksichtigt. Und zweitens lassen sich diese Fehlerquellen ja auch nur schwer beseitigen. Der Teekonsum durch Urlauber etwa wird ja nicht separat erfasst, sodass man ihn herausrechnen könnte.
Intransparente Berechnung des Teekonsums
Zur Sicherheit habe ich trotzdem beim Deutschen Teeverband nachgefragt, ob diese möglichen Fehlerquellen berücksichtigt werden. Die Auskunft war so knapp wie ernüchternd.
Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir interne Berechnungsdetails nicht weitergeben.
Das ist ungewöhnlich: Der Teeverband verkündet eine Rekordzahl, verrät aber nicht, wie sie zustande kommt. Das widerspricht den Grundlagen jeder Wissenschaft und jeder Statistik. Das alleine wäre schon ein Grund, die Zahl und den damit verbundenen "Weltmeister"-Titel nicht länger zu verbreiten.
Doch auch das Deutsche Rekordinstitut erscheint in keinem guten Licht. Es hat sich die Zahl zu eigen gemacht und dem Land 2021 den Weltmeistertitel in einer offiziellen Urkunde bestätigt. Auf seinen Webseiten erweckt das Rekordinstitut den Eindruck, es hätte die Angaben nochmal geprüft. Doch auf Nachfrage erklärt es:
"Leider haben wir keine Informationen zur Methodik der damaligen Untersuchung."
Die einen sagen nichts, die anderen wissen nichts. Seriös geht anders.

Tourismusmarketing mit angeblichem Weltmeistertitel
Jetzt könnte man fragen: Ist das nicht egal? Warum ist dieser Weltmeistertitel überhaupt so wichtig? Ist er eigentlich nicht – aber er wird natürlich zu Marketingzwecken genutzt. 2016 wurde die Ostfriesische Teekultur in das Immaterielle Kulturerbe der Unesco aufgenommen, und der pseudo-amtliche Tee-Weltmeistertitel setzt dem nochmal die Krone auf. Das zeigt schön ein vom niedersächsischen Wirtschaftsministerium mitfinanzierter "Praxisleitfaden nachhaltiger Kulturtourismus", in dem Tipps gegeben werden, wie die Ostfriesische Teekultur inklusive Weltmeistertitel in Wert gesetzt werden kann.
Die Teekultur nimmt im Regionalmarketing einen zentralen Stellenwert ein.
Das wiederum ist offensichtlich. Natürlich hat Ostfriesland ein besonderes Verhältnis zum Tee. Alleine aufgrund seiner Geschichte. Der Tee kam dort über die benachbarten Niederländer schon relativ früh an.
"Vor rund 300 Jahren hat sich in Ostfriesland eine eigenständige Teekultur entwickelt. Tee wird seitdem auf ritualisierte Art während der ostfriesischen Teezeremonie getrunken."
So steht es im Bundesweiten Verzeichnis für das Immaterielle Kulturerbe der Unesco.
Wie authentisch ist die "Ostfriesische Teezeremonie"?
Die "Ostfriesische Teezeremonie" mit "Kluntje" (Kandiszucker) und Sahne ist ebenfalls fester Teil des Regionalmarketings. Und auch ein bisschen übertrieben, meint der Historiker Martin Krieger im SWR-Podcast "Das Wissen". Er hat ein ganzes Buch über die Geschichte des Tees geschrieben und sich die Quellen genauer angeschaut.
Der ostfriesische Tee ist in allererster Linie ein Mythos. Wenn wir uns die Statistiken angucken aus dem siebzehnten, aus dem achtzehnten Jahrhundert, dann werden wir sehr schnell feststellen, dass in Ostfriesland in dieser Zeit in ebenso großem Maße Kaffee wie Tee getrunken wurde. Das heißt also, man trank in Ostfriesland nicht mehr Tee als beispielsweise in Hamburg als in Schleswig-Holstein.
Tatsächlich vollzog sich der Teeboom in Ostfriesland erst viel später, nämlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
"In der ärmlichsten Hütte kommt der Theetopf den ganzen Tag nicht vom Feuer."
Heißt es damals in einem Aufsatz über das ostfriesische Armenwesen. Aber auch:
"Milch wird regelmäßig in Ostfriesland zum Thee nicht genommen, dagegen wenn irgend der letzte Pfennig es gestattet, etwas Kandiszucker"
Also: Kluntje ja, aber keine Milch und keine Sahne, und auch sonst unterschied sich die Teezubereitung die meiste Zeit nicht von der in anderen Gegenden Norddeutschlands.
"Die ostfriesische Teezeremonie war eigentlich gar keine", sagt Martin Krieger:
Denn so, wie man heute den Tee aus Friesland serviert, so hat man ihn im neunzehnten Jahrhundert praktisch überall serviert in Deutschland. Erst zu Beginn des zwanzigsten, Jahrhunderts gab es den Versuch, eine ostfriesische Identität zu konstruieren, und so schafft man einen Mythos nach dem Motto: Wir trinken Tee eigentlich schon immer.
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Heute wird oft gesagt, schwarzer Tee sei im Gegensatz zum Grünen "fermentiert", und daraus schließen manche, dass grüner Tee ursprünglicher oder eben "natürlicher" wäre. Das ist aber ein Trugschluss. Von Gábor Paál | Text und Audio dieses Beitrags stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0.
Sprache Warum heißt Tee in manchen Ländern "Chai" oder "Cha"?
Das ist ein interessantes Phänomen und erzählt viel über die Kolonialgeschichte. Tee heißt auf Persisch Chai, ähnlich klingt der Name im Arabischen oder im Türkischen – Çay. Aber Chay heißt er auch in Russland, der Ukraine und in den Balkanstaaten. Doch dann gibt es plötzlich eine Sprachgrenze. Auf Deutsch heißt er eben Tee, auf Englisch "tea". Auf Französisch, Spanisch, aber auch auf Schwedisch und Finnisch wird das Getränk zwar unterschiedlich geschrieben, aber überall mehr oder weniger immer als "Tee" ausgesprochen. So lassen sich fast alle Länder der Welt in zwei Schubladen sortieren. In der einen spricht man das Getränk "Te" oder so ähnlich aus. In der anderen ist es eine Variante von Chay, Cay oder Cha. Das ursprüngliche chinesische Wort war aber das gleiche, so erklärt es der Kieler Tee-Historiker Martin Krieger. Von Gábor Paál | Text und Audio dieses Beitrags stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0.
Teeanbau Ist Tee immer handgepflückt oder kommen auch Erntemaschinen zum Einsatz?
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Gesundheit Fördert heißer Tee Speiseröhrenkrebs?
Ganz allgemein gesprochen: Ja. Aber, wenn man die Studien genauer liest, stellt sich der Zusammenhang längst nicht so dramatisch dar, wie es teilweise auch im Internet zu lesen ist. Die meisten Teetrinker dürften davon nicht betroffen sein. Das Gleiche gilt übrigens auch für Kaffeetrinker – denn auch wenn die Studien mit Tee durchgeführt wurden, wird der Effekt ausschließlich auf die Temperatur zurückgeführt, nicht auf das Getränk als solches.
Bekannt wurde vor einigen Jahren eine Langzeitstudie aus dem Iran, die zu dem Ergebnis kam: Wer täglich mehr als 0,7 Liter heißen Tee mit einer Temperatur von mehr als 60°C trinkt, hat ein fast doppelt so großes Risiko, an Speiseröhrenkrebs zu erkranken, als der Rest der Bevölkerung. Genauer geht es um eine bestimmte Form von Speiseröhrenkrebs, das Plattenepithelkarzinom. Es gibt auch noch eine Studie aus Japan, die in eine ähnliche Richtung weist wie die aus dem Iran. Mehr Tee-Wissen für Euch: http://x.swr.de/s/teewissen | Von Gábor Paál | Text und Audio dieses Beitrags stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0.
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Umwelt Kaffee oder Tee – welches Getränk hat die bessere Ökobilanz?
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