Einblick | 11.09.2020

„Mein“ Stuttgart

Stand
Autor/in
Prof. Dr. Kai Gniffke

Seit einem Jahr bin ich wieder im SWR. Und genau seit einem Jahr lebe ich nun in Stuttgart. „Wie kann man nur?“ Freunde und Bekannte in Hamburg haben ganz schön die Nase gerümpft, als ich letztes Jahr erzählt habe, dass ich in die Schwaben-Metropole ziehe. Tja, und wie fühlt es sich nun wirklich an? Hier mein aktueller Beziehungsstatus von Stuttgart und mir.

Nachdem ich aus der Eifel weg bin, habe ich in Frankfurt, Mainz und Hamburg gelebt. Stuttgart kannte ich nur von Kurzbesuchen. Meistens bei Dienstreisen nach dem Motto „rein, rauf, runter, raus“. Ich gebe zu, dass Attribute wie bieder, behäbig, spießig durchaus auch in meinem Hinterkopf waren. Vergiss es! Wenn das (etwas überstrapazierte) Wort „spannend“ irgendwo passt, dann hier. Denn in Stuttgart prallen Einflüsse aufeinander, die tatsächlich eine enorme Spannung entfalten.

In keiner anderen Stadt ist der Anteil der Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte so hoch wie hier. Dabei wird nach meinem Eindruck längst nicht so viel über Integration gesprochen wie anderswo. Zugleich ist Stuttgart ein Melting-Pot der Ideengeschichte. Hier findet sich strenger Konservativismus, der sich aus einer starken pietistischen Tradition speist. Auch das besondere Arbeitsethos entspringt dieser Traditionslinie. Diese Geisteshaltung trifft auf eine außergewöhnlich starke grüne Community (grüner Ministerpräsident, grüner Oberbürgermeister) ebenso wie eine sehr ausgeprägte Anthroposophen-Szene – schließlich steht in Stuttgart die erste Waldorf-Schule der Welt. Garniert wird das Ganze mit unglaublich viel Geld. Stuttgart ist eine reiche Stadt und beherbergt ungeheuer viele wohlhabende Menschen. Stuttgart ist zudem Sitz von Weltkonzernen wie Daimler, Porsche, Bosch und einer Reihe von Hidden Champions, die die Stadt auch zu einem bedeutenden Industriestandort machen. Daraus erklärt sich wiederum die große Tradition der Arbeiterbewegung in Stuttgart. Und dann noch eine Hochkultur, die sich mit jeder deutschen Großstadt messen kann: Eines der besten deutschen Opernhäuser, Ballett von Weltrang, großartige Museen und Theater.

Das wäre alles schon genug, um das Wort „spannend“ zu rechtfertigen. Aber da gibt es noch etwas. Stuttgart steht für Bürgerprotest. Die Szene der Gegner von Corona-Maßnahmen hat ihren Kern in Stuttgart. Um das zu verstehen, muss man nachvollziehen – so glaube ich – was die Proteste gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ mit den Menschen gemacht haben. Bis heute hält sich in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, einer repressiven, unkontrollierten Staatsmacht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Das kommt zehn Jahre später beim Thema Corona offenbar wieder hoch. Ob und was dieses aufständische Element damit zu tun hat, dass vor einigen Wochen hunderte Jugendliche die Innenstadt auseinandergenommen haben, kann ich nur schwer beurteilen. Aber nur soviel zum Thema bieder, behäbig und spießig.

Und zum Schluss noch die Frage: Ist Stuttgart schön? Von mir ein eindeutiges „Ja“. Ich habe mir die Stadt im Kessel nun von jeder der umliegenden Höhen angesehen und freue mich täglich über atemberaubende Blicke beim Weg zur Arbeit oder beim Joggen. Sie merken es, ich habe eine Beziehung aufgebaut zu dieser Stadt und auch schon Menschen kennengelernt, die nichts mit meinem Job zu tun haben. Auch das schafft Nähe zu Stuttgart. Bleibt noch eines: Das mit dem Dialekt ist wirklich gewöhnungsbedürftig, aber wenn nette Menschen ihn sprechen, wird sogar schwäbisch sehr, sehr liebenswert.

Ihr

Kai Gniffke

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Autor/in
Prof. Dr. Kai Gniffke