SWR Audio Lab Newsletter August 2022 (Foto: SWR)

Future of Voice

Interaktives Erzählen

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Ehrenmann oder kaltherziger Schurke? Vertrauen oder alles auf eigene Faust erledigen? Interaktive Hörbücher sind verzweigte Geschichten und ermöglichen ein einzigartiges auditives Erlebnis. Sie vereinen die Faszination linearer Storys, die Interaktivität von Computerspielen und die Zugänglichkeit von Voice Technologie. Das Potenzial hat Christian Mahnke als Autor für interaktive Hörbücher und Fiction Podcasts früh erkannt. Gemeinsam mit Sebastian Schöps hat er EarReality gegründet den ersten Verlag für interaktive Hörbücher. Seit 2017 unterstützt das Unternehmen ihre Kund:innen bei der Erstellung, Veröffentlichung, Vermarktung und Monetarisierung fesselnder Geschichten und Spiele.

Im Interview nimmt der Gründer Sie mit in die Welt der interaktiven Hörbücher und erzählt von den Unterschieden zu anderen Formaten, Herausforderungen bei der Entwicklung und der Zukunftsfähigkeit von Voice und den interaktiven Geschichten.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, EarReality zu gründen?

Interaktive Geschichten sind ein spannendes Format. Während sie als Video Games zu den Bestsellern gehören und auch auf Mobilgeräten den Durchbruch geschafft haben, sind sie im klassischen Buchformat zu sperrig für den Massenmarkt.

Als Amazon Alexa 2017 nach Deutschland kam, war daher der erste Gedanke von meinem Mitgründer Sebastian und mir, dass Sprachassistenten genau die richtige Technologie sein könnten, um diesem innovativen Format in Wohnzimmern, Kinderzimmern, im Auto und unterwegs eine neue Heimat zu geben.

Also haben wir mit TWIST eine Software entwickelt, die es Autoren und Kunden ermöglicht, solche interaktiven Hörbücher schnell, einfach und unkompliziert zu erstellen und auf verschiedenen Plattformen wie Sprachassistenten, Webseiten, Apps usw. zu veröffentlichen.

Und dann haben wir angefangen, eigene Storys zu schreiben. Die erste war „Der Zauberwald“, bis heute die erfolgreichste interaktive Hörbuchserie in Deutschland mit bisher über 130.000 Unique Usern. Und die zweite war „Der Eiserne Falke“, der 2018 mit dem ersten Platz bei der Amazon Games Skill Challenge ausgezeichnet wurde und den wir 2020 in Zusammenarbeit mit Matt Mercer ins Englische übertragen haben.

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Wie entstehen die Ideen für Geschichten? Kommen Kunden mit konkreten Ideen auf Sie zu?

Das hängt sehr vom Kunden ab. Grundsätzlich ist für uns immer wichtig zu verstehen, was die übergeordneten Ziele für eine interaktive Geschichte sind und wer die Zielgruppe ist. Erst danach geht es um den eigentlichen Inhalt, also um die Welt, die Charaktere, die Handlung und die Spielmechanik. Wie stark wir dabei eingebunden werden, liegt auf Kundenseite. Meistens vollständig.

Wir hatten allerdings auch schon Kunden, die eher nur an der Benutzung unserer Software interessiert waren. Dass wir im Nachgang anhand unserer User Reports aufzeigen und Gründe dafür benennen konnten, warum die Storys an bestimmten Stellen aufgrund von missglückter Konzeption Nutzer verloren hatten, hat dann aber meist dazu geführt, dass wir bei Folgeprojekten auch gleich in die Konzeption und Story-Erstellung eingebunden wurden. Die gleichzeitige Expertise in Audio und in interaktivem Schreiben ist eben selten. Es ist nicht kompliziert, aber wenn diese Erfahrung fehlt, wird es schwer. Und wir machen ja seit fünf Jahren nichts anderes. Deshalb bieten wir unseren Kunden flexible Services, von Workshops über Coaching und Betreuung bis zur kompletten Story-Erstellung.

Wie wird die Geschichte konkret entwickelt? Gibt es ein Drehbuch?

Ein Drehbuch nicht, aber wir haben letztes Jahr beispielsweise den Leitfaden „Wie Du interaktive Hörbücher für Voice schreibst“ veröffentlicht. Da stecken drei Jahre Schreibarbeit und jede Menge Erfahrung drin.

Grundlegend kann man aber sagen, dass der beste Weg ist, sich zu Beginn Folgendes zu überlegen:

  • Ist der Spieler der Protagonist (Du-Perspektive) oder der Regisseur (Er-Perspektive) der Geschichte?
  • Was kann der Spieler in der Geschichte entscheiden?
  • Welche Konsequenzen haben die Entscheidungen?

Es gibt unzählige Möglichkeiten, den Fokus auf eine interaktive Geschichte zu setzen und diese zu erzählen. Ein beliebter Anfängerfehler ist, zu oft nach dem WAS statt dem WIE zu fragen. Das führt dazu, dass die Geschichte sich zu sehr verzweigt und zu komplex zum Schreiben wird, und auch sehr teuer in der Produktion. Der Mehrwert für den Spieler ist gering. Viel besser ist es, auf Immersion und Identifikation zu setzen und Entscheidungsfragen zu stellen, die den Spieler auf sich selbst zurückwerfen und zu einer emotionalen Interaktion mit der Story beitragen.

In unseren Workshops und Seminaren besprechen wir auch genau das mit Autoren und Redakteuren.

Wer entwickelt die Dialoge? Machen Sie alles allein?

Nein, das wäre auch gar nicht möglich. Wir haben in den letzten drei Jahren über 60 Stunden interaktiven StoryContent veröffentlicht, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch und das quer durch alle Genres und Franchises:

Der Zauberwald

Wir haben bei EarReality ein „Team Storys”, das von meiner Kollegin Lara Gmirek und mir geleitet wird. Lara betreut nicht nur unsere Zauberwald-Autoren und ist für die Kohärenz der mittlerweile 18 Episoden zuständig, sondern ist auch hauptsächlich im Bereich Story Creation und Worldbuilding tätig. Ich beschäftige mich dafür mehr mit der Entwicklung neuer interaktiver Formate, wie beispielsweise unserer interaktiven Kurzgeschichten.

Meistens arbeiten wir bei der Erstellung der Storys dann mit internationalen Autoren zusammen, die wir über die Jahre gecastet und ausgebildet haben. Die Bandbreite ist sehr groß und reicht von Hörbuchautoren bis zu Narrative Designern von Triple A Game Studios. Diese Vielfalt bereichert uns sehr und ermöglicht uns auch, nahezu jedes Franchise abzudecken.

Das „Team Technik” hingegen wird von meinem Mitgründer Sebastian Schöps und unseren Projektmanagern Jörg Benne und Lars Lipinsiki geleitet.

Worin liegen die Unterschiede zu normalen Hörbüchern oder Geschichten?

Interaktive Hörbücher machen aus passiven Hörern aktive Spieler. Sie werden selbst zum Helden der Geschichte und bestimmen mit ihren Entscheidungen deren Verlauf. Solche personalisierten Abenteuer ermöglichen eine viel stärkere Immersion, Identifikation und Emotionen für die Spieler.

Für Publisher ist natürlich wichtig zu erfahren, welche Entscheidungen die Spieler getroffen haben. Das handhaben wir datenschutzkonform und total anonym. Wir wissen also nicht, wer die Spieler sind. Aber wir sehen, wie viel Prozent sich für welche Optionen entscheiden, wann sie die Storys verlassen und wann sie wiederkehren. Das ermöglicht natürlich spannende Möglichkeiten, um seine Zielgruppe perfekt kennenzulernen, oder sie auch wahlweise über zusätzliche Surveys zu befragen. Wir erzielen eine Userbeteiligung von 15 % an unseren eigenen Umfragen über all unsere Storys hinweg. Ein starker Wert, der darin begründet liegt, dass die User sich sowieso schon im Dialog mit der Story befinden.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Entwicklung von interaktiven Hörbüchern?

Inhaltlich ist das, viele gute und relevante Entscheidungen zu kreieren und das Format perfekt auf die beiden Zielgruppen – Hörer vs. Spieler – abzustimmen.

Technisch muss man mit den Kinderkrankheiten von Sprachassistenten leben oder – wie wir es anbieten – zusätzlich weitere Plattformen für die User anbieten. Die eigene Webseite oder eine App. Beispielsweise dann unsere, die im Herbst 2022 erscheinen und die auch für alle unsere Kunden zur Verfügung stehen wird.

Die allergrößte Herausforderung ist jedoch meiner Meinung nach, unter der Vielzahl von Möglichkeiten eine Geschichte interaktiv zu erzählen und die für die Zielgruppe und die Experience bestmögliche auszuwählen. Die Qual der Wahl, wie man so schön sagt. Man kann nicht alles in eine Story packen.

Welche Eigenschaften machen einen guten Autor für interaktive Hörbücher aus?

Konzeptionelles Denken, die eigene Geschichte aus der Sicht des Spielers verstehen und das Verständnis, wie man gute Entscheidungen kreiert, die für die Spieler spannend und herausfordernd zu treffen und für den Autor einfach fortzuführen sind. Das kann übrigens jeder lernen, der offen für Neues und Freude an spielerischen Erlebnissen hat. Die Fähigkeit, für einen Hörer zu schreiben, ist dabei ebenfalls relevant. Gesagtes ist flüchtiger als Gelesenes und gerade die Entscheidungsfragen müssen klar formuliert und eindeutig an den Spieler adressiert sein.

Was war bis jetzt Ihr Lieblingsprojekt?

Ehrlich gesagt, alle. Bei „Der Eiserne Falke“ haben wir Alexa als Begleitfigur für den Spieler eingebaut, die diesen wohlwollend für seine Entscheidungen verspottet oder versucht, ihn zu den „falschen“ Entscheidungen zu bringen.

„Der Zauberwald“ ist einfach eine wunderschöne Abenteuergeschichte, die Kinder in eine magische Welt entführt. Nicht nur Kinder übrigens. In der wohl schönsten Amazon Bewertung aller Zeiten wurde uns geschrieben, dass nicht nur der Sohn, sondern auch die an Demenz erkrankte Oma liebend gern den Zauberwald spielt und dass sie dabei ganz aktiv und lebhaft wird. Ich glaube, wenn man mit einer Geschichte so etwas erreichen kann, dann hat man etwas Magisches geschaffen.

Und auch unsere Kundenprojekte sind alle einzigartig. Durch „Cobra 11“ konnten die Spieler den Kommissar Semir selbst steuern, sie wurden quasi zu Regisseuren. Das ermöglichte für das Team super Rückschlüsse darüber, wie diese Figur aus Fan-Sicht eigentlich beschaffen sein sollte.

Die interaktiven Tatorte waren natürlich Meilensteine und sind genau, wie „Tag X“, top produziert. Wobei man bei ersteren leider versäumt hat, sich vom Fernseh-Format zu lösen. Neunzig Minuten interaktives Hörspiel am Stück entspricht nicht den Userpräferenzen für Alexa und Co. Da sprechen unsere Zahlen bezüglich Absprungraten, Engagement Rates und Retention eine eindeutige Sprache. Das hätte man wie beim überaus erfolgreichen „Mission to Mars“ vom MDR besser auf 4 Episoden aufgeteilt.

Wie schätzen Sie die Zukunft von interaktiven Hörbüchern ein?

Obwohl wir schon seit fünf Jahren dabei sind, wir stehen erst am Anfang einer langen und spannenden Reise. Die Weiterentwicklung der Technologie spielt mit Sicherheit eine Rolle, aber vor allem geht es für uns selbst darum, die richtigen Formate zu entwickeln und die perfekte Erzählweise zu finden. Der Markt ist gerade erst am Entstehen und wir sehen uns als Karawane, die zu neuen Ufern aufbricht. Mitreisende, Händler und Abenteurer sind jederzeit willkommen. Eine neue Welt erschließt man ja nicht alleine.

Langfristig sind wir aber überzeugt davon, dass interaktive Hörbücher und interaktive Podcasts sehr relevant werden. Personalisierter Content ist King, das ist einfach so. Zudem sind solche Storys für Kinder und Autofahrer schon heute nahezu perfekte Use Cases. Aber auch für die großen Streaming-Plattformen stellt sich eigentlich keine Frage des Ob, sondern des Wann. Spotify hat ja bereits interaktive Polls in seine App integriert. Diese kann man aber nur bedienen, wenn das Display eingeschaltet ist. Bei unseren Formaten funktioniert das off-screen und in natürlicher Sprache. Das ist deutlich praktischer für die User und somit die Zukunft. Denn wer die Storys von morgen bestmöglich erzählen will, sollte möglichst gut über seine Audience Bescheid wissen. Wir kennen unsere User nicht persönlich, aber wir wissen genau, welche Storys sie sich in welchen Formaten und Erzählweisen wünschen.

Im Entertainment Bereich sehen wir das Auto jedenfalls ganz vorn. BMW, Mercedes und VW unternehmen ja sehr viel in diesem Bereich, und interaktive Hörbücher sind ein perfekter Use Case. Aber auch Streaming Portale wie Spotify haben gute Chancen. Wir haben mehrere tausend unserer User befragt: Ein Drittel würde interaktive Hörbücher am liebsten in Autos spielen, ein weiteres Drittel über Spotify (oder ein anderes Portal) und ein Drittel würde es am besten finden, wenn wir eine eigene App für unsere EarReality Interactives herausbringen. Naja, das Letztere machen wir ja bald. Und das andere muss man sehen...

Wie schätzen Sie die Zukunft von Voice und Sprachassistenten ein?

Sehr gut. Wir waren nie gehyped, nur immer schon überzeugt. Daran haben auch die rückläufigen Userzahlen und Engagement Rates von Sprachassistenten nichts geändert. Eine ganz normale Entwicklung in unseren Augen. Jetzt sortiert sich alles neu und danach wird es auf einem höheren Level weitergehen.

Langfristig kommen wir an Sprachassistenten aber nicht vorbei. Das kann man gut oder schlecht finden oder Teile davon gut und andere nicht so gut. Wir sind da immer sehr differenziert und realistisch.

Spannend wird für mich aber eher die Frage, wie sich Amazon hier ausrichtet. Google stellt auf sprachgesteuerte Apps um. Das wird die Marktanteile von heute auf morgen natürlich auf den Kopf stellen. Auch für uns ist das spannend. Wir werden diese Entwicklungen daher weiterhin sehr genau verfolgen und die für uns und unsere Partner und Kunden richtigen Schritte einleiten.

SWR Audio Lab Newsletter Juli 2022 (Foto: SWR)
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