Nur seinen eigenen Ideen verpflichtet
Ein „Idiot“ sei er – im Wortsinn: ein „Privatmann“, nur seinen eigenen Ideen verpflichtet. Einer, der sich mit Mozart wahrscheinlich wunderbar verstanden und über Lebenslust ausgetauscht hätte. Gesellschaftlich aktiv sei er nur, wo er konkret tatsächlich „etwas bewirken könne“, ansonsten bleibe er ein „Fußgänger“, dem ideologische Sackgassen wenig anhaben könnten, und als Lehrer ein „Ermutiger zum Eigensinn“.
Wolfgang Rihm war ein Mann der beeindruckenden Töne, die konnten auch in Worte und Bilder gekleidet sein. Als ich ihn vor dreieinhalb Jahrzehnten zum ersten Mal sah, saß er auf dem Dozenten-Tisch eines kleinen Hörsaals der Freiburger Universität. Er baumelte mit den Beinen und schaute amüsiert.
Der alte Professor Eggebrecht wollte den Studienanfängern in Musikwissenschaft damals einen echten, lebenden Komponisten präsentieren; einen, der selbst bei ihm studiert hatte. Schon damals antwortete der auf Fragen nach dem Komponist-Sein immer anders als gedacht, mit hohem Energiepotential und Spaß an der eigenen Antwort.
Wolfgang Rihm überraschte in jedem Werk neu
1952 wurde Wolfgang Rihm in Karlsruhe geboren, wo er – neben seinem Zweitstandort Berlin – auch bis zuletzt lebte. Hier komponierte und lehrte er. Sehr verschiedene Komponisten und Komponistinnen gehörten zu seinen Schülern; heute konzertieren die Studierenden im „Wolfgang Rihm Forum“ im Neubau der Hochschule.
Als er selbst noch sehr jung war, Anfang zwanzig, kamen bei den Donaueschinger Musiktagen Rihms Orchesterwerke „Sektor IV aus Morphonie“ und kurz danach „Sub-Kontur“ zur Uraufführung, und machten, weil sie keiner damals erwartbaren kompositorischen Richtung folgten, Furore.
Aber Rihm ließ sich auch dadurch oder durch die schnell intensive Verbindung zum SWR und seinen Klangkörpern nicht festlegen und überraschte in jedem Werk neu. Und es wurden viele Werke aller erdenklichen Gattungen – was ihm neidische Zwischenrufe einbrachte, für ihn selbst aber logisch schien.
Tzimon Barto und das SWR Symphonieorchester unter Christoph Eschenbach spielen Rihms 2. Klavierkonzert
Die Kulturgeschichte war der sichere Boden für sein Handeln
Groß und breit aufgestellt war Wolfgang Rihm nicht nur von Statur. In seinen Opern nahm er sich die Eroberung Mexikos vor oder Büchners „Lenz“ oder „Hamlet“. Den bekanntesten Solisten und Solistinnen unserer Tage schrieb er Konzerte auf den Leib.
Es gibt eine Lukas-Passion, die jeden Sakralbau zum Schwingen bringt, Solisten und Ensembles aller Größe und Art bekamen „ihre“ Stücke; für die Einweihung der Elbphilharmonie schrieb er ein neues Werk, ebenso persönlich wie groß angelegte „Requiem-Strophen“ für Soli, Chor und Orchester entstanden anlässlich seines 65. Geburtstages im Jahr 2017.
Groß war schließlich auch Rihms Einfluss auf die Musikwelt. Als Mitglied in wichtigen Jurys und Kuratorien sowie im Aufsichtsrat der GEMA und als Berater allerorten agierte er wirkungsvoll, uneigennützig und kenntnisreich. Die Kulturgeschichte war der sichere Boden für sein Handeln.
Das SWR Vokalensemble singt Wolfgang Rihms „Sieben Motetten nach Passionstexten“
„Es fängt doch gerade erst an“
2016 saß ich mit ihm gemeinsam auf einem Podium – es ging um Pierre Boulez. Als wir die Bühne wieder den Musikern überließen, war Wolfgang Rihm beinahe aufgebracht. „Wir können doch da jetzt nicht aufhören zu sprechen. Es fängt doch gerade erst an“. Er hatte Recht: Boulez war gestorben, aber das Gespräch, das er mit seiner Musik, mit seiner Kulturpolitik angezettelt hatte, begann ja gerade erst.
Mit dem Tod von Wolfgang Rihm beginnt, ermutigt zum Eigensinn, ein neues Gespräch.