Mit ihrem sonoren, warmen Klang ist die Bratsche ein wunderbares Instrument. Dass sie auch in Sachen Virtuosität hinter ihrer kapriziösen kleineren Schwester, der Geige, nicht zurücksteht, zeigt Timothy Ridout mit seinem neuen Solo-Album und spielt dort neben Originalwerken von Britten und Caroline Shaw auch Fantasien von Telemann und Bachs d-Moll-Partita.
Timothy Ridout befindet sich im Gespräch mit sich selbst. Der britische Bratschist spielt Telemann: auf einem einzigen Instrument, aber nicht mit einer Stimme allein. Er ruft in den Raum hinaus und hört sein Echo. Er stellt eine Frage und gibt sich selbst die Antwort.
Vielfalt heißt das Zauberwort, wenn der 30-jährige Telemanns B-Dur-Fantasie vorträgt. Alles atmet Elan, Aufbruch, Neugier und Entdeckerfreude.
Subtile Perspektivwechsel
Ridout beherrscht die Kunst, eine musikalische Linie aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen, indem er die Farbe und die Betonung subtil verändert. Oder indem er die Melodie anders artikuliert als den Bass.
Dadurch entsteht der Eindruck, als ob mehrere Instrumente spielen würden. Und nicht bloß einer für alle. Die Alte Musik lässt sich aber auch gut mit der Neuen vermischen.
Alte Musik im Dialog mit Zeitgenössischem
Ein Ton wird in seine Obertöne zerlegt. Es folgen Akkorde und die werden aufgebrochen, schnell und schneller gespielt, in ein ganzes Spektrum von Tönen entfaltet.
„In manus tuas“ heißt das Stück der 1982 geborenen Caroline Shaw, dem eine Motette von Thomas Tallis zugrunde liegt. Es geht um die letzten Worte, die Jesus Christus am Kreuze sprach: „In deine Hände lege ich meinen Geist“. Und der Geist antwortet auch noch.
Es ist eine Passionsmusik für Bratsche solo. Timothy Ridout spielt sie kontemplativ und ganz nach innen gekehrt, als Abbild einer gefährdeten, zerbrechlichen Seele. Und so berührend.
Man glaubt, die Reise in eine andere Welt anzutreten. Und wieder mischt sich die Geisterstimme mit ein – sie schwebt wie eine Doppelgängerin im Raum. Es klingt, als würde sich die Seele des Gekreuzigten vom Körper lösen.
Brittens „Elegy“ als musikalisches Selbstporträt
Viel irdischer geht es bei Benjamin Brittens „Elegy“ zu. Britten war 17, als er dieses Stück schrieb. Es ist ein Klagegesang, der den Gemütszustand des Komponisten spiegelt.
Timothy Ridout begreift dieses Solo als Selbstportrait eines einsamen Jungen, der mit seiner Sexualität ringt und spürt, dass er anders ist. In Ridouts Interpretation ist das nicht frei von larmoyanter Ironie. Etwa wenn der Jammer einen greinenden, jaulenden Ton bekommt.
Das klingt auf fast schon komische Art schmerzverzerrt. Ridout inszeniert die „Elegy“ als Performance, wie einen Auftritt im Theater. Ernst und Humor gehen hier eine unschlagbare Allianz ein.
Musikalisches Gewimmel von verschwenderischer Fülle
Und dann wäre da noch Johann Sebastian Bach. In der Gigue aus Bachs d-Moll-Partita lässt Ridout gleich einen ganzen Schwarm von Tänzern los, die voreinander davonrennen, sich verfolgen, umkreisen und umschwärmen. Das Verwirrspiel von der einen mit den vielen Stimmen treibt er hier virtuos auf die Spitze.
In keinem Moment vermisst man die Geige, für die das Werk doch eigentlich geschrieben ist. Es entsteht ein musikalisches Gewimmel von verschwenderischer Fülle. Doch jeder Ton erhält seinen eigenen Charakter – man weiß kaum, wo man zuerst hinhören soll.
Für dieses Glück braucht es nicht mehr als eine Bratsche. Und einen Meister seines Instruments wie Timothy Ridout.
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