17. Mai 2025

Natur & Mensch

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Konzertreihe des SWR Vokalensembles
Programm
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KONZERTREIHE DES SWR VOKALENSEMBLES

SA 17. MAI 2025, 20 UHR
Stuttgart, Theaterhaus T1

Konzerteinführung
Samstag, 17. Mai 2025, 19 Uhr mit Martina Seeber

Hörfunk
Freitag, 4. Juli 2025 um 20 Uhr im Abendkonzert auf SWR Kultur
Sonntag, 6. Juli 2025 um 20 Uhr im Konzertsaal auf hr Kultur

PROGRAMM

PER NØRGÅRD *1932
Singe die Gärten, mein Herz
für Chor und acht Instrumente (1974)
Anna Padalko, Alt-Solo

JOHANNES MARIA STAUD *1974
Der Gesang der Weiden
nach einem Text von Durs Grünbein für 16-stimmigen Chor (2016-2022)
(Uraufführung, Kompositionsauftrag des SWR)
Solo: Dorothea Winkel, Sopran

YOUNGHI PAGH-PAAN *1945
HWANG-TO / Gelbe Erde
für Chor und neun Instrumente (1988/89)
(Kompositionsauftrag des SWR)
Soli: Wakako Nakoaso, Kirsten Drope, Sopran
Stefanie Blumenschein, Alt
Steffen Kruse, Tenor
Georg Gädker, Mikhail Shashkov, Bass

Pause (ca. 20 Minuten)

CHRISTIAN MASON *1984
The Oddity Effect
nach einem Text von Paul Griffiths für Chor und großes Ensemble (2024/25)
(Uraufführung, Kompositionsauftrag des SWR und des Ensemble Modern)
Soli: Dorothea Winkel, Sopran / Sabine Czinczel, Alt
Christopher Kaplan, Tenor / Bernhard Hartmann, Bass

Mitwirkende

SWR Vokalensemble
Ensemble Modern
Ustina Dubitsky, Dirigentin

KURZINFOS ZUM HEUTIGEN KONZERT

ÜBER DIESES PROGRAMM

Nørgård: Singe die Gärten

Der dänische Komponist Per Nørgård ist mit einem profund-spekulativen Geist gesegnet. In einem Einführungstext zu seiner dritten Sinfonie zitiert er nicht nur Albert Freiherr von Thimus‘ Standardwerk "Die harmonikale Symbolik des Altertums", sondern rechnet dem staunenden Leser auch Proportionsverhältnisse in den von ihm gefundenen "Unendlichkeitsreihen" vor. Der alte Pythagoras hätte seine helle Freude gehabt. Doch Nørgård ist auch ein sehr guter Komponist, der um die Wirkung von Klängen weiß, der Sinn für Dramaturgie hat und dessen Mathematik letztlich im Dienst der musikalischen Wirkung steht. "Singe die Gärten" ist dafür ein schlagender Beleg. Das Chorstück ist eine "Single-Auskoppelung" aus Nørgårds hyperkomplexer dritter Sinfonie. Eingeleitet von einem Marienhymnus erscheint ein Vorläufer der Chorfassung dort, um mit "seiner Schlichtheit einen starken Kontrast zum umgebenden komplexen sinfonischen Universum zu setzen", wie der Komponist schreibt.

Skizze von Per Nøgård zu den Proportionsverhältnissen seines Tonsystems
Skizze von Per Nøgård zu den Proportionsverhältnissen seines Tonsystems

Was Mathematik mit Musik und beides mit höherer Harmonie zu tun hat, kann man an "Singe die Gärten" unmittelbar und hörend erleben: Der harmonische Wohlklang des Stückes beruht darauf, dass Nørgård den Klang auf einer rein gestimmten Obertonreihe über C aufbaut. So klingt Natur pur. Darunter liegt – Nørgård baut seine Stücke gerne in Schichten – noch eine Untertonreihe unter F. Die Frequenzen der Stammtöne C und F stehen zueinander im Verhältnis 3:2 – was schon bei den Alten als perfekte Konsonanz und Abbild sphärischer Harmonie galt. Für die Rhythmik gilt dasselbe Prinzip: Nørgård überlagert zwei Schichten von Achteln und Achteltriolen. Auch die Rhythmen haben somit 3:2-Idealmaße. Und für diejenigen, denen das doch zu viel Mathematik sein sollte, blendet der Komponist in einer dritten Schicht noch eines der schönsten Liebeslieder deutscher Sprache ein: Rückerts "Du bist die Ruh" in der Vertonung von Franz Schubert. Harmonischer geht es nicht. Rilkes Hymnus an das Sein und Nørgårds Klänge beschwören so die Vision, dass jede einzelne Stimme sich als "seidener Faden" im "rühmlichen Teppich" des Lebens fühlen möge.
Ilja Stephan

Staud: Erinnerungslose Naturgewalt

Der Fluss der Zeit: Wir alle treiben auf ihm – und irgendwann gehen wir in ihm unter. Nicht nur als konkreter Handlungsort, auch als Symbol für das unerbittliche Fortschreiten der Geschichte, steht der Fluss (es könnte die Donau sein, und wahrscheinlich ist sie es auch) im Zentrum von Johannes Maria Stauds dritter Oper "Die Weiden". Wie prophetisch das Gemeinschaftswerk des österreichischen Komponisten und des Dresdner Lyrikers Durs Grünbein in die Zukunft blickt, hätte man bei der Wiener-Staatsopern-Uraufführung im Dezember 2018 zwar ahnen, in vollem Umfang aber kaum erkennen können. In einer immer surrealer werdenden Allegorie behandelt das abendfüllende Stück – inspiriert von Autoren wie Joseph Conrad, Algernon Blackwood oder T. S. Eliot – die Zunahme rechter und rechtsextremer Tendenzen in Europa und deren politische Folgen. Der träge, erinnerungslose Strom wird zur Naturgewalt, die alles überflutet. Karpfenartige, wie von H. P. Lovecraft, einem weiteren literarischen Paten, erdachte Horrorwesen entsteigen ihm und beginnen, die Ufer zu bevölkern. Was für die beiden Protagonisten Lea und Peter als Erkundungsreise ihrer realen und ideellen Heimat begann, endet als Horrortrip ins Herz der Finsternis.

Johannes Maria Staud
Johannes Maria Staud

Johannes Maria Staud, geboren in Innsbruck und später an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin ausgebildet, verbindet in "Die Weiden" eine Tonsprache von großer stilistischer Bandbreite mit den Möglichkeiten eines umfang- und klangfarbenreichen Apparats, inklusive üppig besetztem Chor und Orchester sowie 18 solistischen Sing- und Sprechrollen. Um voranschleichende Veränderungsprozesse auch klanglich zu verdeutlichen, allen voran die Verkarpfung der Flussmenschen zu einer meinungslosen und entscheidungsunfähigen Masse, nutzt er Mittel der Live-Elektronik. Nicht nur als Bühnenmetapher, sondern auch für die klangliche Einfärbung der gesamten Musik, spielen Wassergeräusche eine wesentliche Rolle – die damit zu einer idealen Reflexionsfläche für den ausdrucksstarken, ebenso sprachgewaltigen wie lyrisch fein gezeichneten Text von Durs Grünbein wird.

Wie ein Konzentrat tritt der 16-stimmige, a-cappella gehaltene "Gesang der Weiden" aus dem Gesamtwerk heraus. Es handelt sich um einen leicht revidierten und umgearbeiteten Auszug aus dem sechsten Bild der Oper. Der Gesang, der hier zu hören ist, stammt von einem Trupp Deportierter – Zwangsarbeiter und Lagerhäftlinge –, der hinter dem Weidengestrüpp auf einer Insel im Auenschwemmland des Flusses vorüberzieht, und richtet sich aus historischen Erinnerungstiefen an die weibliche Hauptfigur Lea, deren (offensichtlich jüdische) Familie einst in dieser Landschaft mitten in Europa lebte, bis sie vertrieben – oder ermordet wurde. "Warum die Menschen / schneller als alle Wasser / vergessen und hassen, / weiß keiner / zu sagen", heißt es darin. Worte, deren tieferem Sinn man derzeit nicht nur in Europa, sondern auch im Rest der Welt nachforschen kann.
Stephan Schwarz-Peters

Pagh-Paan: Der Klang der Erde

Die Komponistin Younghi Pagh-Paan und der Schriftsteller Kim Chi-ha (1941 – 2022), stammen aus Südkorea. Während Pagh-Paan das Land früh verließ, um ihr Studium an der Freiburger Musikhochschule aufzunehmen, blieb Kim in seiner Heimat, engagierte sich in der Studentenbewegung und debütierte als Dichter. Weniger sein Werk als die Willkürbehandlung, die er während der diktatorischen Herrschaft des Präsidenten Park Chung-hee erleiden musste, machten ihn Anfang der 1970er-Jahre auch im Westen bekannt. 1974 wegen angeblicher Verletzungen des Nationalen Sicherheitsgesetzes und "Anstiftung zum Bürgerkrieg" zum Tode verurteilt, sorgte sein Fall für Proteste auf der ganzen Welt.

1980 wurde Kim Chi-ha überraschend aus dem Gefängnis entlassen, es sollte jedoch bis 1984 dauern, ehe seine Werke in Südkorea wieder veröffentlicht werden durften. In Deutschland war ein Jahr zuvor unter dem Titel "Die gelbe Erde und andere Gedichte" im Suhrkamp-Verlag eine Auswahl seines lyrischen Schaffens in deutscher Sprache erschienen. Drei dieser Gedichte – "Die Ebene", "Der Weg nach Seoul" und "In einer regnerischen Nacht" – dienen als Grundlage für Younghi Pagh-Paans Chor-Ensemble-Komposition "HWANG-TO / Gelbe Erde", uraufgeführt am 26. April 1989 vom heutigen SWR Vokalensemble.

"HWANG-TO  Gelbe Erde", Partitur S. 1
"HWANG-TO / Gelbe Erde", Partitur S. 1 (Mit freundlicher Genehmigung der G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH)

Schon der zweisprachige Titel verweist auf den interkulturellen Ansatz der Komponistin, die den ersten und letzten Text auf Deutsch und Koreanisch, den mittleren nur im koreanischen Original vertont hat. Auch in der Musik verbindet sie Elemente aus ihrer alten und neuen Heimat: eine detailliert gestaltete Partitur für westliche Chorstimmen und Orchesterinstrumente auf der einen Seite, auf der anderen eine Materialbehandlung, die sich an die koreanische Volksmusiktradition des Pansori anlehnt – einer epischen, noch heute sehr lebendigen Kunstform aus Gesang und Erzählung, vorgetragen von einem Solosänger oder einer Solosängerin und begleitet vom rhythmischen Spiel der Fasstrommel Buk.

Hier wird die Rolle des Solo-Singenden vom Vokalensemble übernommen. Sein Part ist, gemeinsam mit dem des Schlagzeugs, durch zentrale Platzierung in der Partitur deutlich hervorgehoben. Entgegen dem improvisatorischen Gestus einer Pansori-Aufführung werden die Gesangstechniken, die Pagh-Paan diesem Vorbild entlehnt, exakt ausnotiert und kommen sowohl im vielstimmig aufgefächerten Chor als auch – imitierend – in den Instrumenten zum Einsatz. Sowohl durch das fluide Verhältnis zwischen Menschen- und Instrumentenstimmen als auch durch die Zweisprachigkeit und ihren erweiterten Möglichkeiten der Lautverbindungen schafft die Komponistin eine beeindruckende Expressivität.

Eingebettet ist "HWANG-TO / Gelbe Erde" in eine Reihe von Werken, in denen sich Younghi Pagh-Paan mit dem Thema "Erde" und seiner Stellung im Daoismus auseinandersetzt. Neben der allumfassenden Bedeutung kommt hier durch die Worte Kim Chi-has eine gesellschaftskritische Konnotation hinzu. In "Die Ebene" schildert er die Zerstörung der Erde als Lebensgrundlage; "Der Weg nach Seoul" handelt von der Landflucht als Konsequenz dieses Raubbaus und davon, wie er die Menschen in die prekären Arbeitsverhältnisse der Großstadt treibt; "In einer regnerischen Nacht" schließlich thematisiert ihre Entwurzelung und Hoffnungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass eine Rückkehr in die Heimat nun unmöglich geworden ist.
Stephan Schwarz-Peters

Mason: Nur nicht herausstechen?

Der Mensch, zumal der heutige, hat ein starkes Bedürfnis nach Individualität, nach dem Besonderen. Wer möchte nicht der oder die Beste, Stärkste, Schönste sein? Dabei besteht einer der ausgefeiltesten Überlebenstricks der Natur darin, möglichst nicht in der Masse aufzufallen. Nicht umsonst schließen sich Fische, Säugetiere oder Vögel in großen, viele Tausende und mitunter Millionen von Tieren umfassenden Einheiten zusammen, in denen jedes Individuum dem anderen gleicht. Immer aber gibt es auch diejenigen, die aus der Masse herausstechen und damit zu bevorzugten Opfern von Fressfeinden werden. Das nennt man im Englischen den "oddity effect": ein Phänomen, dem Christian Masons neues Werk Idee und Titel verdankt.

Oper oder Kantate? Der erfolgreiche, kürzlich mit dem Grawemeyer Award ausgezeichnete britische Komponist könnte sich am ehesten noch für den Vergleich mit einer Vokalsinfonie in vier Sätzen und einem Epilog erwärmen. Wie schon bei früheren Projekten stand ihm als literarischer Koautor der Kritiker, Musikschriftsteller und Librettist Paul Griffiths zur Seite, der den Antagonismus von Masse und Individualität hier als universelles Kurzdrama in vier Stationen anlegt. Die von Schwarmintelligenz beseelten Akteure dieses höchst prägnanten Szenarios: Fische, Kühe, Vögel – und Menschen, die am Ende eben doch nichts anderes sind als eine weitere Variation des ewiggleichen Prinzips.

Sinnfällig wird das bereits in der Gestaltung des Textes, der für alle Gruppen eine sprechende grafische Gestaltung findet: Wörter, die im Kreis schwimmen wie die Fische in einer "Schule", in halbgeordneten Reihen zusammenstehen wie die Kühe auf einer Weide oder schwungvoll durch die Luft fliegen wie ein Vogelschwarm. Der schwarmhafte Einklang des Menschen wiederum wird aus der Konfrontation mit dem Tagesgeschehen geformt, das sich, heraufbeschworen durch Zeitungsschlagzeilen, wie ein aggressiver polyphoner Schrei ins Auge bohrt.

The Oddity Effect – Partitur
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The Oddity Effect – Partitur
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The Oddity Effect – Originaltext
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The Oddity Effect – Partitur
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Am Anfang jeder Szene steht das durch Chor und Ensemble klanggewordene Statusbewusstsein der Gruppe, aus der sich bald die Stimme des Individuums herausschält. Was sie jedes Mal aufs Neue provoziert, ist die Frage "Who are you?" (Wer bist du?), die der Komponist dann wie einen Keil in die Musik hineintreibt: disruptives Element in einem strukturellen Aufbau, der tatsächlich einer Sinfonie mit Eröffnung, elegischem zweiten Satz, Scherzo und frei gestaltetem Finale nachempfunden sein könnte. Die Unruhe, die das Erscheinen des Individuums bei der Masse auslöst, wird von dieser jeweils mit einem kollektiven "Schluck" beantwortet. Bald schon aber ist die Gruppenordnung wiederhergestellt – zumindest in den ersten drei Abschnitten.

Anders in der vierten, der "Menschen"-Szene. Die erneute Eingliederung in die Masse, die Wiederbelebung des Status Quo bedeutet hier nicht die Rückkehr in einen akzeptablen, naturbewährten Zustand. Während die erstmalige Frage nach der Identität noch zu einem Moment hoffnungsvoller Reflexion mündet – zu hören sind dabei die Worte "Wir müssen neue Paradiese erfinden ..." – führt das erneute, nachdrücklichere Stellen dieser Frage zu einer Gemengelage aus zunehmend hysterischen, ängstlichsten, wilden, wütenden Gefühlsäußerungen. Ist dies der Widerwillen des Menschen, die von seiner Individualität ausgehende Gefahr für sich selbst zu erkennen? Der finale "Schluck" in der fünften Szene, dem Epilog, jedenfalls äußert sich drastisch in elf wiederholten Tutti-Ausbrüchen. Danach herrscht Rückzugsstimmung. "Ich werde müde … lass uns gehen …", sind die letzten Worte des Chors. Eine mögliche Frage, die dabei nachhallt, wäre: Wie könnten, anstelle der Resignation, Identität und der Anspruch ans Kollektiv fruchtbar zusammenwirken, um als vereinte Menschheit gegen feindliche Raubtiere (im übertragenen Sinne) zusammenzustehen …
Stephan Schwarz-Peters

GESUNGENE TEXTE

PER NØRGÅRD
Singe die Gärten

Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst;
wie in ein Glas
eingegossene Gärten, klar, unerreichbar.
Wasser und Rosen von Isfahan oder Schiras,
singe sie selig, preise sie, keinem vergleichbar.

Zeige, mein Herz, dass du sie niemals entbehrst.
Dass sie dich meinen, ihre reifenden Feigen.
Dass du mit ihren, zwischen den blühenden Zweigen
wie zum Gesicht gesteigerten Lüften verkehrst.

Meide den Irrtum, dass es Entbehrungen gebe
für den geschehenen Entschluss diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.

Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.

Rainer Maria Rilke aus: Sonette an Orpheus
Copyright 1955 by Insel Verlag, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten

Alt-Solo
Du bist die Ruh’,
der Friede mild,
die Sehnsucht du,
und was sie stillt.
Ich weihe dir
voll Lust und Schmerz
zur Wohnung hier
mein Aug’ und Herz.

Friedrich Rückert

JOHANNES MARIA STAUD
Der Gesang der Weiden

Da ist er nun,
Der entfesselte Strom:
Das große Vergessen.

Aber und aber und wenn,
und wennschon und aber
und wennschon und doch.

Wenn schon die Wasser nie
innehalten, die Wassermassen
nichts im Gedächtnis behalten –
warum nicht zumindest
Die Menschen an ihren Ufern?

Hört die Gemeinheit nie auf?
Die Hetze, das Hassen.
Das ewige Grauen.

Erloschene Asche, ach,
in den Flüssen entsorgt.
Verscharrt unter Birken,
in Gruben und Gräben,
unter Buchen verscharrt.
Hier war es, hier und hier:
das Gefühl, wir durchstreifen
ein altes Mörderrevier.

Vergessliche Wasser, aber
warum die Menschen
schneller als alle Wasser
vergessen und hassen,
weiß keiner
zu sagen, keiner.

Aber und aber und wenn,
und wennschon und aber
und wennschon und doch.
Wenn dann.

Wenn ins Freie treten
unter die tiefschwarzen,
planetarischen Himmel.
Furchterregend, das ist er:
Der Strom zeigt
sein wahres Gesicht.
Wenn dann.

Aus der Oper "Die Weiden" von Johannes Maria Staud nach einem Text von Durs Grünbein.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Suhrkamp Theaterverlag

YOUNGHI PAGH-PAAN
HWANG-TO / Gelbe Erde

Folgende Gedichte von Kim Chi-ha im koreanischen Original und in ihrer deutschen Übertragung bilden die Grundlage der Komposition

Die Ebene

Was ist es,
das hier zerbirst?
Was bedeutet das Grollen?
O Ebene von Han-tan-li, verbrannte Erde,
die die weißen, von einem lieblichen Wind getriebenen Wellen befeuchten:

was ist es,
das allmählich Stück um Stück
auf dir zerbirst?

Wie von blutigen Schlachten vergangener Tage träumend,
zittert das Licht der Sonne,
über fahl verwitterte Steinhügel hinweg
hallt das Echo vereinzelter Schüsse,
dann flüstert leise der Wind.

Und da ist das Knirschen,
mit dem die altgewordenen Berge zerreißen,
da ist an der verfallenen Burgruine
wild auflodernd
das Geschrei der Beeren, der Blüten.
Auch ist da
das Trompetensignal, das den langen Kampf ankündigt
zwischen den welkenden und all den jungen, frischen Kräften,

und aus meinen Ohren,
aus der Tiefe meiner Brust herauf
das heiße Pochen des Blutes.

Wenn ich auf der menschenleeren Ebene stehe
und die Irisbüschel mit ihren prallen Knospen rauschen,
wie abends die Brandung rauscht,
höre ich, dass die Dinge zerbersten,
allmählich Stück um Stück
zerbersten.

Kim Chi-ha, 1969

Der Weg nach Seoul

Wenn ich jetzt gehe,
weine nicht, wenn ich gehe
hin über den weißen Pass, den schwarzen Pass,
wenn ich über den Pass des Durstes
schwerfüßig nach Seoul die Straße gehe,
mich zu verkaufen.

Ob ich wiederkomme eines Tages,
ob ich eines Tages lachend und fröhlich
wiederkomme und habe es zu etwas gebracht,
ich kann dir nicht versprechen,
dass ich dir einst die Schleifen löse,
wenn ich jetzt gehe.

Weine nicht, wenn ich gehe.
Mag mein Los wie bitter auch sein,
aber die Wunderblumen, den Duft des Öls im Haar,
wie könnt‘ ich das je vergessen!
Glaub mir, im Traum, von Tränen nass,
des Nachts im Schein der Sterne kehr‘ ich zurück.

Wenn ich jetzt gehe,
weine nicht, wenn ich gehe,
grollt der Himmel auch,
wenn ich über den Pass des Durstes
schwerfüßig nach Seoul die Straße gehe,
mich zu verkaufen.

Kim Chi-ha, 1969

In einer regnerischen Nacht

Wo bist du?
Unter dem Dach, unter dem sonst mich dämmriges Lampenlicht empfing,

hastig schlurfende Schritte:
wo bist du jetzt?

Die vertraute Straße,
der geliebte Erdgeruch: wo in dieser Regennacht,
o immer einsames Herz,
wo erstarrst du grausam zu Stein?

Durch Einöden kam ich den langen, endlosen Weg,
und als ich, erschöpft, das Dorf betrat: wie elend mir war!
Von der Ärmsten, die sich so gequält,
auch nicht ein Schatten mehr, verschwunden in die Nacht.

So schreit,
ihr Frösche, schreit laut um meinetwillen,
wenn ich, wo tief die Wolken fliegen,
über die fernen Berge wieder,
über die weiten Ebenen wieder ruhlos irre,
schreit mir nach wie besessen!

Hier ist kein Gesicht mehr, das sich zu dem meinen beugt,
keine Hand mehr, die sich ausstreckt nach mir.
O stilles Lächeln im Schein der Lampe,
das sich einst in meiner Brust gebrannt:
wo erstarrst du grausam
jetzt zu Stein,

zu Stein?

Kim Chi-ha, 1965
Deutsche Übertragung aus "Die Gelbe Erde", Edition Suhrkamp Nr. 1059
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages.

CHRISTIAN MASON
The Oddity Effect

scene 1 – shoal

first state  

we swim in the sea
in silver circles
revolve in the blue light
all alike as if we were
just one caught
in a tangle of mirrors  

solo:
not this one
a little bigger
just a little
you’d think it would protect me,
but –  

drama  

WHO ARE YOU?  

question:
we are us are we are us are we  

solo:
not this one  

gulp 1 [ f ]  

second state  

just one caught
in a tangle of mirrors  

we swim in silver circles
revolve in the blue light all alike  

silver circles revolve  

revolve  

scene 2 – herd (Passacaglia)  

first state
we graze on the green grass
feet steady in the earth
hooves engaged
as we treat slowly slowly onward
calm eyes watchful  

solo:
not this one
a little darker
not so much so
you’d think it would protect me
but –  

drama

question:
WHO ARE YOU?  

solo:
not this one

gulp 2 [ f f ]

second state (lament)

we graze on the green grass
feet steady in the earth  

herd solo 1:
one was lost  

engaged  

herd solo2:
was one lost?  

as we tread slowly onward
calm eyes watchful  

herd solo 1:
one was lost    

scene 3 – flock

first state  

we fly in the wide sky
a line in the wide sky
all in the one bearing
we fly at the one speed
in der on formation  

solo:
not this one
a little heavier
a little slower
pressing to keep up
but –  

drama  

question:
WHO ARE YOU?  

we us we us we us
us we us we us we
we us we us we us  

solo:
not this one  

gulp 3 [ f f f ]  

second state  

fly sky
line in the wide sky
sky fly    

scene 4 – crowd I  

first state  

London will Flugzeugträger ins Rote Meer schicken!
Waffen im Wert von 21 Milliarden Euro…
AfD-Äußerung alarmiert Geheimdienst
Putins ideologische Folie…
"Wir machen weiter bis zum Sieg!"
Was passiert beim NATO-Manöver „Steadfast Defender“?
Republikaner leben in einem anderen Amerika als Demokraten…
Der Kampf um die amerikanische Freiheit
DER NEUE KALTE KRIEG
Neue Vorwürfe gegen Deponiebetreiber
Katalonien ruft den Wassernotstand aus
Nordic Waste!
Die Krise des BAfÖgs!
KI-Verordnung! Soforthilfe aus Spanien!
Evotec braucht neue Impulse!
Wir müssen neue Paradiese erfinden

scene 5 – crowd II (Epilogue)  

question:
WHO ARE YOU?  

Weiß nicht!
Dumme Frage!
Wer, mein Herr, will das wissen?
Frag meine Mutti!
Dummkopf!
Sag mir: Ausländer bist Du?
Was hast gesagt?
Versteh‘?
ICH LIEBE DICH NICHT!
Noch hier?
Eins! Zwei! Drei!
Raus!
Geh!
Hau ab!

gulp 4 [ f f f f ]  

second state  

Ich werde müde…
Lass uns gehen…  

Paul Griffiths

KÜNSTLERBIOGRAFIEN

Ustina Dubitsky

Ustina Dubitskys musikalische Begabung zeigte sich bereits in jungen Jahren. Ihren ersten Bühnenauftritt absolvierte sie als Mitglied des Kinderchors der Bayerischen Staatsoper in München, während sie gleichzeitig eine intensive Geigenausbildung genoss. Als Konzertmeisterin in verschiedenen Jugendorchestern konnte sie ihre Führungsqualitäten unter Beweis stellen, insbesondere unter einem so renommierten Dirigenten wie Mariss Jansons. Von 2022 bis 2024 war Ustina Dubitsky Assistenzdirigentin beim Gürzenich-Orchester Köln. Im Jahr 2022 assistierte sie bei der Neuproduktion von Wagners "Lohengrin" an der Bayerischen Staatsoper sowie bei Mozarts "Zauberflöte" am Thèâtre des Champs-Élysées mit Les Siècles. Im April 2024 gab sie ihr Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit der Neuproduktion des Doppelabends "Lucrezia / Der Mond". Sie hat eine Vielzahl von Orchestern dirigiert, darunter das Gürzenich-Orchester Köln, das Philharmonische Orchester von Luxemburg, das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, das Orchestre de Paris, das Ensemble Modern oder die Deutsche Kammerakademie Neuss.

Ustina Dubitsky
Ustina Dubitsky

Nach der Teilnahme am 57. Internationalen Dirigentenwettbewerb in Besançon war Dubitsky von Januar 2022 bis Juli 2023 Assistentin beim Orchestre Victor Hugo. Im März 2022 gewann sie den La Maestra-Preis für Dirigentinnen und wurde infolge mit einem zweijährigen Stipendium an der Akademie La Maestra ausgezeichnet. Begonnen hatte Ustina Dubitsky ihre Dirigierausbildung zunächst an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, wo sie bei Markus L. Frank, Gunter Kahlert und Nicolas Pasquet studierte. Ihre Fähigkeiten vertiefte sie in Meisterkursen bei Peter Eötvös, David Zinman, Paavo Järvi u. a. Sie sucht aktiv nach Möglichkeiten, eigene Projekte zu realisieren, wie zum Beispiel das Live-Stream-Konzert "Wie ich dich liebe" mit Musikern des Gewandhausorchesters.

Ensemble Modern

Seit seiner Gründung 1980 zählt das Ensemble Modern (EM) zu den führenden Ensembles für Neue Musik. Es vereint rund 20 Solist:innen aus Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Indien, Israel, Japan, den USA und der Schweiz, deren Herkunft den kulturellen Hintergrund der Formation bildet. Das in Frankfurt am Main beheimatete Ensemble ist bekannt für seine einzigartige Arbeits- und basisdemokratische Organisationsweise. Künstlerische Projekte, Partnerschaften und finanzielle Belange werden gemeinsam entschieden und getragen. Seine unverwechselbare programmatische Bandbreite umfasst Musiktheater, Tanz und Videoprojekte, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterkonzerte. Tourneen und Gastspiele führen das Ensemble Modern zu renommierten Festivals und herausragenden Spielstätten in aller Welt.

Ensemble Modern
Ensemble Modern

In seiner Heimatstadt tritt das Ensemble Modern in einer eigenen Abonnementreihe in der Alten Oper Frankfurt auf. In Kooperation mit der Oper Frankfurt finden regelmäßig Musiktheaterproduktionen sowie die Werkstattkonzertreihe "Happy New Ears" statt. Seit 2011 veranstaltet das Ensemble Modern zudem gemeinsam mit dem hr-Sinfonieorchester das Festival "cresc ... Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main". In enger Zusammenarbeit mit den Komponist:innen erarbeitet das Ensemble Modern, mit dem Anspruch der größtmöglichen Authentizität, jedes Jahr durchschnittlich 70 Werke neu, darunter etwa 20 Uraufführungen. So entstanden über die 25 Jahre außergewöhnliche und oftmals langjährige Zusammenarbeiten u. a. mit John Adams, Mark Andre, George Benjamin, Peter Eötvös, Brian Ferneyhough, Heiner Goebbels, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, György Kurtág, Helmut Lachenmann, György Ligeti, Olga Neuwirth, Enno Poppe, Rebecca Saunders, Simon Steen-Andersen, Karlheinz Stockhausen, Steve Reich, Frank Zappa oder Vito Žuraj sowie herausragenden Künstlerpersönlichkeiten anderer Kunstsparten.

Neben seinen vielfältigen Aktivitäten auf dem Podium präsentiert das Ensemble Modern die Ergebnisse seiner Arbeit auch auf Tonträgern, die vielfach ausgezeichnet wurden. Fast 50 der insgesamt über 150 Produktionen erschienen im eigenen, 1999 initiierten Label Ensemble Modern Medien. 2024 wurde das Ensemble Modern mit dem Silbernen Löwen der Biennale Musica di Venezia ausgezeichnet.

SWR Vokalensemble

Der Rundfunkchor des SWR gehört zu den internationalen Spitzenensembles unter den Profichören. Die instrumentale Klangkultur und stimmliche wie stilistische Flexibilität des Vokalensembles suchen ihresgleichen und begeistern Publikum, Dirigent:innen und Komponist:innen im In- und Ausland. Mehr als 300 Werke sind in den vergangenen Jahrzehnten für das SWR Vokalensemble entstanden und jedes Jahr kommen neue hinzu. Neben der zeitgenössischen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble vor allem den anspruchsvollen Chorwerken der Romantik und der klassischen Moderne.

SWR Vokalensemble
SWR Vokalensemble

Von 2004 bis 2020 war Marcus Creed der Chefdirigent des SWR Vokalensembles. Unter seiner Leitung wurde das SWR Vokalensemble für seine kammermusikalische Interpretationskultur und seine stilsicheren Interpretationen vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik, dem Echo Klassik, dem Diapason d’Or, dem Choc de la Musique und dem Grand Prix du Disque. Künstlerischer Leiter ist seit 2020 Yuval Weinberg, der 2022 mit dem SWR Vokalensemble eine Gesamtaufnahme aller Chorwerke von György Ligeti vorlegte, die u.a. mit dem Jahrespreis Diapason d’Or sowie dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde.

BESETZUNG

SWR Vokalensemble

KONZERTVORSCHAU

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Sonstige Informationen
Wir weisen freundlich darauf hin, dass unautorisierte Bild- und Tonaufnahmen jeglicher Art bei dieser Veranstaltung untersagt sind.

Impressum
Chormanagement: Dorothea Bossert
Redaktion: Ilja Stephan
Text: Die Werkkommentare von Stephan Schwarz-Peters und Ilja Stephan sind Originalbeiträge.

Stand
Autor/in
SWR