INHALT
Konzerttermin
Programm
Kurzinfos zum heutigen Konzert
Zu Clytus Gottwald
Zu Hugo Wolf
Zu Franz Schreker
Zu Johannes Borowski
Zu Richard Strauss
Zu Gustav Mahler
Gesungene Texte
Biografien
Besetzung
Konzertvorschau
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Service
KONZERTTERMIN
KONZERTREIHE DES SWR VOKALENSEMBLES
SA 22. FEBRUAR 2025, 20 UHR
Stuttgart, Ev. Kirche Gaisburg
Konzerteinführung
19 Uhr mit Eva Pobeschin
Hörfunk
Mittwoch, 30. April 2025, ab 20.03 Uhr im ARD Abendkonzert
PROGRAMM
Hugo Wolf 1860 – 1903
Clytus Gottwald
Vier Lieder für 7 bis 16 Stimmen (1990)
Und willst du deinen Liebsten sterben sehen
Das verlassene Mägdlein
Auf ein altes Bild
Der Gärtner
Franz Schreker 1878 – 1934
Clytus Gottwald
Drei Lieder nach Texten von Paul Heyse und Rainer Maria Rilke
für 6 bis 13 Stimmen (2005)
Im Lenz
Umsonst
Und wie mag die Liebe
Johannes Borowski *1979
The Waves (2025)
Nine Songs for Choir after Virginia Woolf
(Uraufführung, Kompositionsauftrag des SWR)
Richard Strauss 1864 – 1949
Clytus Gottwald
Waldseligkeit op. 49 Nr. 1 für 12 Stimmen (2013)
Die Nacht op. 10,3 für 8 Stimmen (2019)
Traum durch die Dämmerung op. 29 Nr. 1 für 16 Stimmen (2012)
Gustav Mahler 1860 – 1911
Clytus Gottwald
Um Mitternacht für 9 Stimmen (2009)
Im Abendrot (Adagietto aus der Sinfonie Nr. 5) für 16 Stimmen (2008)
Mitwirkende
SWR Vokalensemble
Marcus Creed, Dirigent
KURZINFOS ZUM HEUTIGEN KONZERT
ÜBER DIESES PROGRAMM
Clytus Gottwald

Clytus Gottwald hat als Chordirigent, Komponist und Musikwissenschaftler die zeitgenössische Chormusik entscheidend geprägt. Nach Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft war Gottwald 1946 Gründungsmitglied des Chores von Radio Stuttgart (später Südfunk-Chor Stuttgart, heute SWR Vokalensemble). Sein beruflicher Weg führte ihn vom Kantorenamt an der Stuttgarter Pauluskirche zum SWR, wo er von 1969 bis 1988 Redakteur für Neue Musik war. Im Jahr 1960 gründete Gottwald die Schola Cantorum Stuttgart, ein 12-stimmiges Solistenensemble (die meisten waren Mitglieder des Südfunk-Chores), das er bis 1990 leitete. Neben Musik des 15. und 16. Jahrhunderts widmete sich die Schola vor allem der Neuen Musik: Über 80 Werke wurden unter Gottwalds Leitung durch die Schola uraufgeführt. Daneben legte er rund 100 Transkriptionen von Werken des 19. und 20. Jahrhunderts für Vokalensemble vor.
"Ich wollte dem Chor seinen Klang zurückgeben"
Clytus Gottwald im Gespräch mit Dorothea Bossert
Vor 24 Jahren hatte das SWR Vokalensemble schon einmal ein ganzes Konzert den Transkriptionen von Clytus Gottwald gewidmet. Vor allem seine damals neu erschienenen Mahler-Bearbeitungen standen dabei im Zentrum. Als Pausenbeitrag für dieses Konzert ist damals dieses Gespräch entstanden, in dem Clytus Gottwald das Geheimnis seiner Transkriptionen verrät und erzählt, wie er auf diese Idee kam.
DB: Herr Gottwald, Sie haben mit Ihrer Schola Cantorum ein riesiges Repertoire an Vokalmusik vom Gregorianischen Choral über die franko-flämische Vokalmusik des 15. und 16. Jahrhunderts bis hin zu neuen und neuesten Kompositionen aufgeführt. Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie begonnen haben, eigene Bearbeitungen zu schreiben? Hat Ihnen das vorhandene Chorrepertoire nicht ausgereicht?
Das hängt tatsächlich alles unmittelbar zusammen: Meine Arbeit an den älteren Musikhandschriften, meine Beschäftigung mit Dufay, Ockeghem, Josquin und auch meine Nähe zu den Zeitgenossen, die nach 1945 kompositorisch auffällig geworden sind.
Die Chormusik war bis zum 15./16. Jahrhundert die eigentliche Kunstmusik und auch Jahrhunderte später war sie immerhin auf der Höhe der aktuellen musikalischen Entwicklung, bis weit in die Romantik hinein. Nach der Jahrhundertwende aber, insbesondere in den 1920er- und 30er-Jahren haben die Chöre den Anschluss verloren. Und mir ist bei meiner Chorarbeit aufgefallen, dass ab dieser Zeit ein wichtiges Moment chorischer Artikulation vernachlässigt worden ist, nämlich der Klang.
Sie meinen, die Vokalmusik seit der Jahrhundertwende klingt nicht mehr?
Ja. In der Orchestermusik waren die Komponisten auf der Suche nach ständiger Erweiterung der Tonalität oder haben einiges riskiert und ausprobiert. Die Chöre aber haben sich lieber an Schütz und Alter Musik orientiert. Für sie war die Spätromantik nichts als Abstieg, Zerfall, Auflösungserscheinungen – Begriffe, die in den 30er-Jahren, bis in die 50er-Jahre hinein wirksam gewesen sind. Aber dadurch, dass man sich auf Barockmusik zurückorientiert hat, war plötzlich auch in den neueren Chorwerken der vierstimmige Satz wieder da. Der aber ist für Vokalmusik eigentlich gar nicht geeignet, denn die Einzelstimmen der Sänger mit ihren individuellen Formanten fügen sich darin nur sehr schwer zu einem chorischen Gesamtklang.
Das war in Deutschland sicher so, aber gilt das auch für Frankreich? Francis Poulenc oder später Olivier Messiaen haben doch in klanglicher Hinsicht neue Wege verfolgt?
Ja, es kam dann in Deutschland eine Zeit des musikalischen Aufbruchs nach 1950/60, das begann in Frankreich tatsächlich schon in den 1940ern in Paris mit Marcel Couraud und seinem Ensemble. Die Uraufführung der "Cinq Rechants" von Olivier Messiaen war das Startzeichen für eine neue Musik des chorischen Denkens.
Weil er die Stimmen wie Instrumente behandelt hat?
Nein. Weil Messiaen die Möglichkeiten der stimmlichen Artikulation immer weiter ausgebaut hat. Sehr virtuos, rhythmisch komplex war das, perkussiv mit Klangsilben ... Das hat sich dann fortgesetzt in den 60er- und 70er-Jahren. Aber Ende der 80er-Jahre habe ich dann gemerkt, dass die Komponisten, die in den 60er-Jahren noch ein vitales Interesse an Chor gehabt hatten, in den 80er-Jahren aufhörten, sich dafür zu interessieren. Die klanglichen Möglichkeiten des Chores schienen ihnen erschöpft und es kam wieder zu einer gewissen Erschlaffung.
Ich habe damals viel darüber nachgedacht, wie man das Instrument weiterentwickeln könnte: Man müsste dort ansetzen, wo die anderen aufgehört hatten – bzw. wo die Chöre aufgehört hatten, sich zu interessieren, nämlich beim Klang.
Ich bin zwar kein Komponist, aber ich bin ein kompositorisch denkender Mensch. Ich denke in den kompositorischen Kategorien der Neuen Musik – nicht so sehr in den Kategorien der Alten Musik. Dennoch fand ich das klangliche Denken schon im 15./16. Jahrhundert, gerade bei den alten Meistern Josquin, Ockeghem, auch bei Gabrieli vorgebildet: Das war eine ganz andere Satztechnik, die speziell für den Chorgesang entwickelt wurde. Ein dichter Männerstimmensatz und eine Oberstimme oder zwei, je nachdem … Wenn man diese Partituren hört, hat das eine ganz andere Klanglichkeit als sie später für Chor üblich wurde. Diese Art des Denkens war also völlig verlorengegangen und es war mir wichtig, sie wieder neu zu beleben.
Es gab ja viele Beispiele, dass andere Leute das auch versucht haben. Richard Strauss zum Beispiel, der in seiner Motette "Der Abend" eine völlig neue Chorbehandlung vorgeführt hat.
Ihre erste Bearbeitung war dann aber nicht Musik von Richard Strauss, sondern "Le Soupir" von Maurice Ravel. Wie kam es dazu?
Das kam so: 1969 haben wir die Uraufführung von Ligetis "Lux aeterna" gesungen. Und diese Musik war so eine Art Damaskuserlebnis für mich: Ich erkannte plötzlich, dass Ligeti in diesem Stück einen Weg gefunden hat, so mit Stimmen umzugehen, dass sie trotz der individuellen Einzelstimmen einen gemeinsamen Klang entfalten. In gewisser Weise war es die transformierte Fortsetzung dessen, was Richard Strauss in seinen Chorwerken begonnen hatte. Und ich hatte den Eindruck, dass sich dieser Weg noch weiterentwickeln ließe.
Und noch etwas Anderes kam hinzu: In der neuen Vokalmusik war immer die Artikulation der Einzelstimme das Wichtige. Auch das fand ich bei Ligeti wieder, aber auf eine klug verwandelte Weise: Ligeti hat zum Beispiel ein Stück geschrieben, das "Melodien" heißt. Tatsächlich gibt es hier niemanden, der mit Füllstimmen im Gesamtklang verschwindet, sondern alle haben immer Melodien. Es gab also zahlreiche Anregungen, die ich mit mir herumtrug. Zehn Jahre lang. Bis 1978 Pierre Boulez in Stuttgart war und Ravels "Trois Poèmes von Stéphane Mallarmé" dirigiert hat. Und als ich das erste dieser Lieder gehört habe, da dachte ich: Das ist ja sehr leicht auf 16 Stimmen zu transformieren. Und das habe ich dann gemacht – "Le Soupir" war meine erste Transkription. Aber wir haben sie nicht so sehr oft gesungen.
Dann kam einige Jahre später der 60. Geburtstag von György Ligeti, den wir hier in Stuttgart gefeiert haben. Als Geburtstagsgeschenk für ihn habe ich "Die Nachtigall" von Alban Berg bearbeitet. Ein Schmankerl.
Also kann man sagen, Sie wenden die Satztechnik aus György Ligetis "Lux aeterna" in Ihren Bearbeitungen auf Musik der Spätromantik an?
Ja, es ist eine Hypothese, die ich mir selbst so zurechtgelegt habe: "Wie hätten Richard Strauss, Claude Debussy oder Maurice Ravel für Chor komponiert, hätten sie die Möglichkeiten, wie György Ligeti für Chor geschrieben hat, gekannt?" Das ist das gedankliche Motto meiner Bearbeitungen.
Ihre nächste Bearbeitung war dann Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" – ihre berühmteste und, wie ich finde, nach wie vor eine besonders gelungene Bearbeitung …
Auch das habe ich zum ersten Mal in der Orchesterfassung mit Pierre Boulez gehört. Yvonne Minden hat das gesungen. Wunderbar! Ich hatte auch da wieder den Eindruck, das könnte man auf 16 Stimmen übertragen, ohne dass dem Werk etwas verloren geht. Das ist ja wichtig. Dass unter Umständen das Werk sogar ganz neue Möglichkeiten des Verständnisses entfaltet. Das war 1983/84 und ich hatte mir bei dieser Bearbeitung vorgenommen, in Anlehnung an Ligetis "Melodien" die Einzelstimmen nicht als Füllmaterial zu benutzen, sondern als selbstständige Melodieträger. Weil sich dann die Stimmen viel freier entwickeln, als wenn man sie in einen kompakten Satz einbindet. Wenn ein Sänger sagt, "wenn ich nicht singe, dann singt eben der andere", dann ist schon etwas falsch. Gerade dieses Moment der subjektiven Ausformung der Einzelstimme, das sollte auch in dieser Bearbeitungstechnik seinen Niederschlag finden.
Sehr viel später haben Sie sogar Mahlers Adagietto aus der fünften Sinfonie zu einem A-cappella-Werk umgeformt. Wie gehen Sie das an, einen Sinfoniesatz in Stimmen umzusetzen? Hier gibt es ja zum Beispiel keinen Text.
Ja, das ist ein Problem. Wenn ich nicht Lieder auseinandergelegt habe und sie für 16 oder manchmal sogar 20 Stimmen umgesetzt habe, dann musste selbst ich einen geeigneten Text suchen.
Ein textloser Gesang kommt für Sie nicht in Frage?
Nein. Man hat das früher gemacht, Vokalisen – das finde ich ziemlich zurückgeblieben. Man muss den Sängern einen Text geben, eine Sprache, die ihnen im Zusammenhang mit der Musik die Möglichkeit einer subjektiven Interpretation und auch einer sprachlichen Artikulation ermöglicht.
Und warum ist Ihre Wahl auf Eichendorffs "Im Abendrot" gefallen?
Es erschien mir recht plausibel, diesen Text zu nehmen, den Richard Strauss in den "Vier letzten Liedern" verwendet hat. Man sagt ja immer, hier sei Strauss in seiner Sprache der Musik von Gustav Mahler am nächsten. Und da dachte ich, na, das werde ich mal ausprobieren, ob das wirklich so ist. Und habe diesen Text unterlegt, um zu sehen, ob das im Sinn mit der Musik zusammengeht. Die Musik ist vieldeutig. Man kann sehr viele Texte unterlegen, ohne ihr Gewalt anzutun.
Der Satz beginnt mit einem Vorspiel, mit Harfenarpeggien und einem fast unhörbaren sukzessiven Einsetzen der Instrumente, bevor die eigentliche Melodie kommt. Wie übertragen Sie das auf Stimmen?
Man muss natürlich gewisse Kompromisse schließen. Eine Harfenstimme kann man nicht in den Chorsatz übernehmen. Die lässt sich auch nicht durch irgendwelche Kunstgriffe fingieren. Das geht einfach nicht ... Oder, was ich bei meiner Vokalbearbeitung immer beanstande, das sind die wunderbaren Pizzicati in den Kontrabässen, die plötzlich einen harmonischen Fixpunkt für den harmonischen Fortgang darstellen. Das kann man im Chor sehr schlecht machen. Aber ansonsten habe ich das Material, das bei Mahler im Orchester ist, einfach übernommen und versucht, es auf Stimmen zu übertragen.
Bei Mahler ist es eigentlich ein fünfstimmiger Streichersatz, Sie machen einen 16-stimmigen Chorsatz daraus.
Hätte ich einen fünfstimmigen Chorsatz daraus gemacht, wäre vermutlich die klangliche Möglichkeit sehr beschränkt gewesen. Das hätte dann immer wie ein Madrigal geklungen. Das ist es aber nicht. Es ist ja ein strikt sinfonischer Zug in dieser Musik. Das hieße, Mahler historisch zurückzustufen auf einen Bewusstseinsstand, den er doch längst überwunden hatte. Nein. Eine solche Bearbeitung funktioniert für mich nur, wenn man die Komposition weiterentwickelt und über Mahler hinausgeht.
Glauben Sie, das hätte ihm gefallen?
(Lacht) Es ist zum Beispiel noch gar nicht so lange her, da wurde ich eingeladen, in München einem Konzert beizuwohnen, bei dem man die Klavierfassungen der entsprechenden Mahler-Lieder neben meine Bearbeitungen gestellt hat. Dieses Experiment ging nicht zu Gunsten der Urfassung aus – denn das Lied klang irgendwie kläglich, es hatte überhaupt keine Atmosphäre. Das muss Mahler auch selbst gespürt haben, denn er hat ja die meisten seiner Lieder später orchestriert.
Wenn man in die Noten Ihrer Bearbeitungen schaut, sind da immer Überlagerungen, Überlappungen der Stimmen. Ist das ein von Ligeti abgeschaute Mittel, das es Ihnen erlaubt, den Klang strömen zu lassen und die Klangbalance zu steuern?
Ja, natürlich. Da sehen Sie, warum ich 16 Stimmen nehme, um einen sinfonischen Zusammenhang herzustellen. Damit sich Stimmen ablösen können und es immer welche gibt, die weiterführen. Trotzdem müssen sie bei aller Polyphonie die Harmonik generieren. Wir können ja nicht sagen, na gut, ich nehme mal eine andere Harmonik. Es muss schon die mahlersche Harmonik sein.
Die Bearbeitung hat das Problem, dass man, wenn man so bekannte Werke bearbeitet, wie Sie es tun, das Original vergessen muss. Gibt es dafür einen Trick?
Ich habe einmal ein sehr signifikantes Erlebnis gehabt: Ich habe Messiaen bearbeitet, "Louange a l’Éternité de Jésus" aus dem Quatuor pour la fin du temps. Das habe ich für 19 Stimmen bearbeitet (aber das nur deshalb, weil Messiaen eine Vorliebe für Primzahlen gehabt hat). Und dann habe ich die Sache Pierre Boulez vorgeführt und der hat gesagt: "Das ist nicht dasselbe Stück, aber es ist gut. Es ist sogar besser als das Original." Wenn die Hörer diesen Eindruck haben, dann hat auch die Transkription eine Berechtigung.
Das Gespräch wurde im Februar 2011 im Studio des SWR Stuttgart aufgezeichnet.
Hugo Wolf

Wollte man die vier Lieder als Zyklus auffassen, was von Wolf nicht beabsichtigt war, so könnte man das erste Lied aus dem "Italienischen Liederbuch" als eine Art Ouvertüre betrachten, die zu den folgenden drei "Mörike-Liedern" einführen soll. […]
Ist das erste Lied gesellschaftlich kaum bestimmbar, erfährt im "Verlassenen Mägdlein" die soziale Situation ihre grelle Beleuchtung. Die arme Dienstmagd, die in aller Frühe Feuer schüren muss, damit die Herrschaft zur Morgentoilette warmes Wasser hat, kann ihren Schmerz über das Ende ihrer Liebe kaum freien Lauf lassen: In ihrem Dienstbotenstand hat man höchstens unter der Arbeit ein Recht auf große Gefühle. […]
Das letzte Lied, "Der Gärtner", als ein fröhliches zu verkennen, gehört zum interpretatorischen Standard ganzer Sängergenerationen. Zwar liebt der junge Gärtner die schöne Prinzessin, aber seine Liebe scheitert an den gesellschaftlichen Barrieren des Standes. Jeden Morgen lauert er auf den Ausritt der Verehrten, jeden Morgen hofft er, dass sie ihn eines Blickes würdigt, damit er endlich, als Dank für ihre Huld, sie mit Blumen überschütten kann. Aber jeden Morgen ist das Hoffen vergeblich. So lässt Wolf am Ende des Liedes das galoppierende Edelfräulein samt der Hoffnung des Gärtners in einer imaginären Ferne verschwinden.
Die Transkription will das Lied nicht nur in einen anderen Klangraum versetzen, sondern im oben angedeuteten Sinne interpretieren. So wird die Melodie einer Gruppe von drei Stimmen anvertraut (Sopran, Alt, Bariton), während die dem Galopp des Pferdes nachgebildete Begleitung vom Chor übernommen wird. Zwischen beiden Gruppen singen einige Tenöre einen liegenden, gelegentlich der Harmonik leicht folgenden Halteton, Zeichen für die Schranke, die starr und unübersteigbar die Sphären von Herrin und Knecht trennt. […]
Auch im dritten Lied "Auf ein altes Bild" wird Zweisprachigkeit zur Interpretation eingesetzt. Wolf hat dem Mörike-Text, eine Beschreibung einer spätmittelalterlichen Darstellung von Maria und dem Kinde, eine Begleitung beigegeben, die dem mittelalterlichen Hymnus nachempfunden ist. Dabei hat Mörike das Leiden am Kreuz als Telos hineinreflektiert: Der Baum, jener der Erkenntnis und der Erlösung, wurde in das Bild einkomponiert: "arbor una nobilis". Darauf reagiert auch der von mir unterlegte Text. Unversehens geht der Marienhymnus über in den Kreuzeshymnus "Vexilla regis prodeunt, fulget crucis mysterium" (Des Königs Banner ziehn einher, es leuchtet des Kreuzes Geheimnis).
Clytus Gottwald 2004
Franz Schreker

Der Titel von Schrekers erster großer Oper "Der ferne Klang" könnte als Devise genommen werden für dessen musikalisches Denken insgesamt. Klang war für Schreker nicht nur sinnliches Scheinen einer Idee, sondern Ziel der kompositorischen Anstrengung. Medium von Schrekers Phantasmagorie war natürlich das Orchester, das er, über Mahler und Strauss hinausgehend, nicht nur erweiterte, sondern zu unerhörter Differenzierung vertiefte. Dabei verdiente er seinen Lebensunterhalt als Dirigent des von ihm gegründeten Wiener Philharmonischen Chores, zu dessen Großtaten die Uraufführung von Schönbergs "Gurreliedern" zählte. Die Leitung des Chores legte er 1920 nieder, als er zum Direktor der Berliner Musikhochschule berufen wurde. Dass das Instrument Chor in seinem Klangdenken keinen Platz gefunden hat – Schreker komponierte wenig Chormusik – könnte reizen, einige von Schrekers Klangvorstellungen auf den Chor zu übertragen und damit etwas nachzuholen, was sich dieser versagte.
Die vorliegenden transkribierten kurzen Lieder entstammen zwei verschiedenen Schaffensperioden. "Im Lenz" und "Umsonst" gehören in die "Fünf Gedichte von Paul Heyse", die 1901 im Wiener Verlag Robischek erschienen. Sie fallen in die Zeit, als Schreker an der Oper "Der ferne Klang" arbeitete. […] Die Vertonung des Rilke-Textes "Und wie mag die Liebe" entstand 1919 und repräsentiert den reifen Schreker zwischen den Opern "Der Schatzgräber" (1915 – 18) und "Irrelohe" (1919 – 23).
Clytus Gottwald 2006
Johannes Borowski

"Was bleibt von der Kunst und von der Musik?"
Für das SWR Vokalensemble sind neun A-cappella-Miniaturen auf Texte von Virginia Woolf entstanden. Mit dem Komponisten Johannes Boris Borowski hat sich Martina Seeber darüber unterhalten.
MS: Herr Borowski, mit Virginia Woolfs experimentellstem Buch "The Waves", das oft auch als Roman bezeichnet wird, teilt ihr neues Werk den Titel. Sie haben für die Vertonung Ausschnitte gewählt. Wie gehen Sie mit der Literaturvorlage um?
Ich lese extrem viel, ich bin regelrecht literaturbegeistert. Lesen und Komponieren sind für mich auf unterschiedliche Weise immer miteinander verbunden. Wenn ich für Stimmen schreibe, stellt sich die Frage: Wie gehe ich mit Text um? Möchte ich Text? Möchte ich, dass er verständlich ist? Wie stark bleibt er? Wie stark bleibt die Musik? Kann im Idealfall etwas Neues erzeugt werden, ohne dass die Literatur zerstört wird und ohne dass die Literatur die Musik zerstört? All diese Fragen spielten bei der Textauswahl eine Rolle.
Das heißt, Sie sagen nicht: "zuerst die Musik" oder "zuerst der Text", sondern: "beides zugleich"?
Im Prinzip beides, aber in diesem Fall war da zuerst der Text und meine Begeisterung über den Roman. Ähnlich wie beim Hören von Musik werde ich beim Lesen von "The Waves" in einen Strom aus Gedanken geworfen, Gedanken der Figuren, mit denen ich mich vermische. Im Roman gibt es insgesamt sechs Personen, drei Männer und drei Frauen, die abwechselnd sprechen oder denken, die aber auch so etwas wie eine große Gesamtpersönlichkeit bilden. Es könnte auch eine einzige Person sein, die über ihr Leben schreibt, über Situationen, ihren Körper und ihr Menschsein. Unabhängig von der Musikalität des Textes finde ich genau das sehr inspirierend, wenn ich für Chor schreibe, weil auch da eine Vielzahl von Persönlichkeiten gemeinsam etwas ausdrückt.
Kann man sagen, worum es geht in "The Waves" von Virginia Woolf? Sie hat den Text ein "Play-Poem" genannt, also eine Mischung aus Gedicht und Theaterstück.
Er besteht aus lauter kleinen Geschichten, Momenten, die ständig neu miteinander kombiniert und vernetzt werden. Dargestellt werden Situationen im Leben der sechs Figuren, von der Kindheit bis zum Tod. Dazu wird interpolierend die Natur beschrieben, die Wellen, das Meer. Die Handlung an sich als etwas Konkretes ist mir relativ unwichtig. Als Leser und Komponist fasziniert mich die spielerische Struktur, fast schon ein dialogisches Prinzip ohne eigentlichen Dialog, z.B. im Text des dritten Songs "I SEE", da heißt es "I see a ring, I see a slab, I see a globe" usw. Für mich ist dieser Roman ein erzählender und lyrisch-poetischer Text zugleich, er schwebt dazwischen. Ähnlich schwebt meine Chorkomposition zwischen Musik, musikalisiertem Text und Literatur.
Was war wichtig bei der Auswahl der Texte und ihrer Anordnung in den neun Chorminiaturen?
In jedem dieser kleinen Lieder gibt es eine Art Thema. Das fünfte zum Beispiel heißt "I AM THE STALK". Jemand hält einen Pflanzenstängel in der Hand, betrachtet ihn und verwandelt sich dann selbst in den Stängel. Die Person wird plötzlich zur Pflanze und beobachtet diesen Prozess von außen. Es geht mir in der Musik dieses Liedes um eine langsame Verwandlung. Wann verbindet sich etwas mit dem anderen? Wo gibt es Übergänge? Irgendwann werde ich als Hörer selbst ein Teil der Musik, gehe in ihr auf, ähnlich wie sich die Romanfigur in eine Pflanze verwandelt.
Der Zyklus ist für ein Ensemble von Solisten entstanden, für Profisänger, die zugleich chorisch agieren können. Vor welche Herausforderungen stellen Sie das Vokalensemble? Das erste Stück "THE SHORE" sieht in der Partitur sehr einfach aus. Wellenbewegungen wandern durch die Stimmen.
Vieles sieht einfach aus, was aber nicht heißt, dass es einfach zu singen ist, eher im Gegenteil. Text und Sprache sind mir in diesem Stück wichtig. Ich möchte, dass man sie versteht, dass man Bezüge zwischen Wörtern herstellen kann, wie man auch Bezüge zwischen Klängen herstellt. "THE SHORE" ist eine Art Einleitung, ein Prozess im Tonraum. Das Ganze ist eine Welle, noch Natur, auf dem Weg zur Musik.
Und dauert nur eine Minute?
Genau, eine kurze Öffnung des Raums. Das achte Stück "NOW" beschreibt auch einen Tonraumprozess, neben anderem. Man kann es mit dem Symbol der Welle in Verbindung bringen, die für Wiederkehr, Verwandlung, Veränderung steht. Das ist ein Formgedanke, über den sich der Textinhalt in der Musik spiegelt.
Gibt es etwas, das den Zyklus zusammenhält?
Es gibt eine bestimmte "musikalische Sprache", in der ich mich bewege, was besonders den harmonischen Zusammenhalt garantiert. Aber auch formal sind manche Stück ähnlich gestaltet. Ich arbeite z.B. mit kleinen Elementen, die sich prozesshaft entwickeln. "I AM THE STALK" und "NOW" sind in dieser Hinsicht am extremsten. Manches hört man als eine Art bewegte Farbigkeit oder wie eine Wasserbewegung, was auch einen Rahmen für das Hören geben kann.
Deuten Sie die Texte durch die Vertonung?
Teils bewusst, teils unbewusst. Man kann ja auch fragen: Wie viel hat Schubert bewusst gemacht und wie viel interpretieren wir hinein? Sobald ich etwas finde, möchte ich es zeigen. Wenn wir den Prozess von "NOW" verfolgen, hört man, dass das Ganze immer ein bisschen höher geht, immer ein bisschen weiter nach oben und harmonisch zu einer Art Spektralklang wird, ein "heller" Klang. Im Text geht es um Licht. Aber jeder Hörer wird vielleicht seine eigenen Assoziationen haben.
Sind Sie jemand, der dem Publikum raten würde, die Texte im Programmheft mitzulesen oder raten Sie, einfach zu hören?
Ich selbst höre in solchen Fällen eigentlich zuerst und lese hinterher. Ich würde mich freuen, wenn man nach dem Hören Lust bekommt, "The Waves" zu lesen. Mir ist es wichtig, auf Literatur aufmerksam zu machen, die weniger bekannt ist. Im deutschsprachigen Raum steht Virginia Woolf vor allem im Schatten ihres Zeitgenossen James Joyce. Aber ich halte sie für die wesentlich interessantere Literatin.
Sie haben eben schon von der Musikalität ihrer Texte gesprochen. Worin liegt diese Musikalität?
Viele Strukturen entwickelt Virginia Woolf aus der Vorstellung des Klanges heraus. Wenn man die Texte laut liest, verhalten sich die einzelnen Sätze zueinander klanglich. Und dann schafft sie in diesem Roman Übergänge zur Lyrik, aber es bleibt trotzdem ein großer erzählender Text, es bleibt Prosa. Und obwohl sie teilweise existenzielle, auch brutale Dinge beschreibt, tut sie das mit Leichtigkeit. Wie bei spielenden Kindern: Die sind auch brutal in dem, wie sie spielen. Das Spiel schließt Härte nicht aus, erlaubt aber eine Distanz im Umgang, was natürlich positiv und negativ gleichermaßen sein kann.
Beschreiben die "9 Songs" eine Entwicklung?
Die vertonten Texte erscheinen in der ungefähren Zeitabfolge, in der sie auch im Roman erscheinen. Sie beginnen in der Kindheit und enden im Alter. Am Ende geht es um das Aufbegehren gegen den Tod oder aber die Akzeptanz des Todes.
Im letzten Song "I DO NOT KNOW" wird nicht mehr gesungen, sondern nur noch gesprochen.
Hier hat mich diese spielerische Art, Fragen zu stellen, interessiert. Einer fragt, und jemand anderes antwortet: "Ich weiß es nicht". Dieses "Ich weiß es nicht" ist ja fast auch eine Frage. Ich übernehme dieses Spielerische. Worum es dann geht, ist die Akzeptanz des Nichtwissens. Es ist eine Altersweisheit, die hier erreicht wird. Und vielleicht wird aus der Textstelle "I have done with phrases" bei mir ein "I have done with music".
Der Chor ist im letzten Lied in zwei Gruppen geteilt und rezitiert, meist flüsternd.
Es ist theatralisch und musikalisch zugleich. Man kann den Song anhören, ohne den Text zu verstehen und wird ihn vielleicht trotzdem musikalisch genießen. Das Sprechen kommt als Farbe und Geräusch schon im zweiten Lied "I BURN" dazu, am Ende bleibt nur noch das Sprechen übrig. Man könnte auch interpretierend fragen: Was bleibt von der Kunst und von der Musik, was bleibt überhaupt? Was ist wichtig? Solche allgemeinen Fragen kann man in Musik gut stellen, ohne dass sie banal und naiv wirken.
Und es endet mit dem Ausruf "O Death", aber ganz unpathetisch.
So endet auch der Roman. Das ist es, was ich an Woolf so spannend finde. In ihrer Literatur gibt es diese Positivität, die trotz all der Härte und Brutalität des Lebens ganz leicht und spielerisch daherkommt, ohne zu verdrängen, so auch hier am Ende. Bleibt die Frage: Sind Worte doch stärker als Musik? Man sagt ja immer, Musik sei stärker. Oder hat der Gesang die Worte am Ende verändern können? Sind die Worte vielleicht gar keine Worte mehr ...?
Richard Strauss

"Traum durch die Dämmerung" entstand zusammen mit den Liedern op. 27 und 29 in einer Zeit, da Strauss als Dirigent gefragt war. Bayreuth interessierte sich für ihn ebenso wie die Münchener Hofoper. Auch privat bahnten sich entscheidende Veränderungen an. Am 10. September 1894 heiratete er die Sängerin Pauline de Ahna, die er 1892 in Weimar bei einer gemeinsamen Produktion des "Tristan" kennengelernt hatte. Als Hochzeitsgeschenk komponierte er die Lieder op. 27 und es liegt nahe, dass auch die 1895 komponierten Lieder op. 29 ihr zugedacht waren. Das erste dieser "Drei Lieder nach Texten von Otto Julius Bierbaum" ist der berühmte "Traum durch die Dämmerung", der zu den Standardstücken ganzer Generationen von Sängern gehört.
Auf wessen Vermittlung Strauss auf die Lyrik des Tiroler Dichters Hermann Gilm zu Rosenegg (1812 – 1864) gestoßen sein mag, ließ sich nicht rekonstruieren. Gilm war alles andere als ein Heimatdichter. Seine Lyrik zeichnet sich durch eine sprachliche Artistik aus, die angeblich das Interesse von Gottfried Benn geweckt hat. Zu den Gilm-Liedern zählt auch das Lied "Die Nacht".
Das Lied "Waldseligkeit" kann als Beleg dafür genommen werden, dass die Musiker dieser Zeit nicht nur in Frankreich den Klang als komponierbar entdeckten. Strauss hält mit diesem Lied mit nur einem Gedanken Haus, der die tiefen Register beherrscht. Obwohl der Klaviersatz schon den Orchestersatz visiert, ist von diesem Lied keine Instrumentation überliefert. Die plötzlichen Tonartwechsel, sonst eine Konstante Strauss'scher Écriture, sind auf wenige Takte am Schluss zusammengedrängt, werden nur als Umschreibung der Grundklage eingesetzt.
Clytus Gottwald 2013,14,15 (Carus, UE)
Gustav Mahler

Das Lied "Um Mitternacht" entstand im Sommer 1901 in Maiernigg am Wörthersee, wo Mahler während seiner Tätigkeit als Direktor der Wiener Hofoper seine Ferien zu verbringen pflegte. […] Mahler hat es wenig später orchestriert, es gleichsam auf sinfonisches Niveau transkribiert. In dieser Form wurde es 1904 uraufgeführt. Später vom Komponisten noch einmal aufgegriffen, erlebte es in "Das Lied von der Erde" im Satz "Der Einsame im Herbst" seine veränderte Renaissance.
Auch Mahlers fünfte Sinfonie entstand während dieser Sommerferien, erfuhr jedoch zahlreiche Umarbeitungen und Retuschen, die bis in Mahlers Todesjahr 1911 reichten. Privates spielte in den Kompositionsprozess insofern hinein, als Mahler im März 1902 Alma Schindler geheiratet hatte, was ihn bewog, die ursprünglich viersätzige Form des Werkes um das Adagietto zu erweitern. In der Tradition figuriert deshalb der Satz als orchestrales Liebeslied für Alma. […]
Mahler hat das Adagietto offensichtlich wie eine Aria konzipiert, das heißt, er ist nach dem Schema Melodie und Begleitung verfahren, ohne jedoch in die verachtete Generalbass-Praxis zu verfallen. Typisch mahlerisch sind die Wechsel von einer Tonart in die andere zu nennen, Stellen, die Adorno als "kritische Scharniere" bezeichnete. Statt schulmäßiger Modulationen bedient sich Mahler eines mehr oder weniger ausgeprägten Hinübergleitens. Stand also nach den Wunderhorn-Sinfonien auch in der Fünften noch das Thema "Lied" zur Debatte, ohne dass es dort zu vokaler Gestalt geronnen wäre, so war bei der (Rück-)Vokalisierung der Musik nach einem Text zu suchen, der zwei Bedingungen erfüllte, "schrankenlose Liebe" (Adorno) und den Schmerz des Abschieds; "denn, was sehnsüchtig über sich hinauswill, ist zugleich Abschied, Erinnerung". Diese Bedingungen schienen mir erfüllt in Eichendorffs Gedicht "Im Abendrot". Darin ist die Erinnerung an einen langen Weg "Hand in Hand" ebenso aufbewahrt, wie das Bewusstsein des letzten Abschieds "Ist das etwa der Tod?". Richard Strauss benutzte den Text in seinen "Letzten Liedern", denen man eine deutliche Nähe zu Mahler unterstellte. Umso mehr musste der Text Mahlers Musik adäquat sein.
Darüber hinaus könnte der Titel "Im Abendrot" als Zeichen des Abschieds von einer ganzen Musikkultur genommen werden, die erst im Abschiednehmen eine Leuchtkraft entfaltet, die sie zu ihrer Zeit vielleicht nicht besessen hat. Ich widme diese Transkription meinen Freunden Pierre Boulez und Heinz Holliger sowie dem Andenken jener Freunde, die den letzten Abschied schon genommen haben, György Ligeti und Mauricio Kagel.
Clytus Gottwald 2008 (Carus) und 2009 (UE)
GESUNGENE TEXTE
Hugo Wolf
Und willst du deinen Liebsten sterben sehen
Und willst du deinen Liebsten sterben sehen
So trage nicht dein Haar gelockt, du Holde
Lass von den Schultern frei sie niederwehen;
Wie Fäden sehn sie aus von purem Golde
Wie goldne Fäden, die der Wind bewegt –
Schön sind die Haare, schön ist, die sie trägt!
Goldfäden, Seidenfäden ungezählt –
Schön sind die Haare, schön ist, die sie strählt!
Italienisches Liederbuch, übertragen von Paul Heyse
Das verlassene Mägdlein
Früh, wann die Hähne krähn,
eh die Sternlein schwinden,
muss ich am Herde stehn,
muss Feuer zünden.
Schön ist der Flammenschein,
es springen die Funken,
ich schaue so darein,
in Leid versunken.
Plötzlich, da kommt es mir,
treuloser Knabe,
dass ich die Nacht von dir
geträumet habe.
Träne auf Träne dann
stürzet hernieder,
so kommt der Tag heran,
o ging er wieder!
Eduard Mörike
Auf ein altes Bild
In grüner Landschaft Sommerflor,
bei kühlem Wasser, Schilf und Rohr,
schau wie das Knäblein sündelos
frei spielet auf der Mutter Schoß!
Und dort im Walde wonnesam,
ach, grünet schon des Kreuzes Stamm!
Eduard Mörike
(Begleitchor)
O du, der Jungfrauen
glorreich erhabene,
die du gebarst
und säugtest den Knaben.
Was Eva böse vertat,
du gabst es wieder durch deinen Sohn,
damit sich den Mühseligen die Tore
des Himmels wieder öffnen,
du Pforte des hohen Königs;
das Kreuz, der edle Baum.
Des Königs Banner ziehn einher,
es leuchtet des Kreuzes Geheimnis.
Hymne zum Fest Maria Geburt / Beginn des Kreuzeshymnus "Vexilla regis prodeunt"
Der Gärtner
Chor I: Auf ihrem Leibrösslein, so weiß wie der Schnee,
die schönste Prinzessin reit’t durch die Allee.
Der Weg, den das Rösslein hintanzet so hold,
der Sand, den ich streute, er blinket wie Gold!
Du rosenfarbs Hütlein wohl auf und wohl ab,
o wirf eine Feder verstohlen herab!
Und willst du dagegen eine Blüte von mir,
nimm tausend für eine, nimm alle dafür!
Eduard Mörike
Chor II: Ein Sommertag, voll Blumenduft,
voll Vogelsang, reizendem Farbenklang,
ein Sommertag hell, die Blümelein am Quell
und Duft in der Luft, Blumen am Weg,
der Liebste mein, wo weilt er doch,
o brausende, drängende Seligkeit du,
ach, vorbei ist die alte, die fröhliche Zeit,
doch weit von hier, durch Meere getrennt,
weilt er doch jetzt; Herz erschrick,
gedenket des Tags, da Abschied uns sang,
verworrener Ströme verworrener Gang,
und in schwankenden Wogen das Schiff sich verliert;
wie Sommertag, voll lauer Luft, voll Finkenschlag,
die Blümelein, der Liebste, ach, wo weilt er doch,
gedenket der Zeit,
ach Mütterlein mein, nur dir allein vertraut ich es,
die goldene Zeit, die Wolken ziehn hin,
o Menschenkind, was schaudert dich, gedenke der Zeit,
der Wasserfall dort, mit hellem Schall, ein kühlender Hort.
Horch! Hörnerklang! Ach so hoffnungshell,
Täuschung ists, nur rauscht der Wald
verwirrend, aus einsamen Tiefen
rufts dunkel und traurig ein leises "vorbei"!
Clytus Gottwald
Franz Schreker
Im Lenz
Im Lenz, wenn Veilchen blühn zuhauf,
Gib Acht, da wachen die Tränen auf.
Im Herbst fiel alles Laub vom Baum.
ach, Lieb und Glück vergangen wie ein Traum.
Gib Acht, so ist der Dinge Lauf:
Blumen und Wunden brechen im Frühling auf.
Paul Heyse
Umsonst
An dich verschwendet hat mein Herz
sein bestes Gut und Blut,
sein Träumen, Lachen und Weinen,
sein Zagen und seinen Mut.
Und du, du gehst und blickst vorbei,
du stolze Königin.
Du weißt und willst es nicht wissen,
wie ganz verarmt ich bin.
Wie bettelarm und bettelstolz
ich meine Straße zieh,
ein Bettler bin ich geworden,
doch betteln werd ich nie.
Paul Heyse
Und wie mag die Liebe
Und wie mag die Liebe dir kommen sein?
Kam sie wie ein Sonnen, ein Blütenschnei’n,
kam sie wie ein Beten? Erzähle:
Das Glück löste leuchtend aus allen Himmeln sich los
und hing mit gefalteten Schwingen groß
an meiner blühenden Seele.
Rainer Maria Rilke
Johannes Borowski
The Waves
1
THE SHORE
the waves broke on the shore
2
I BURN
… sun had not yet risen.
… a dark line…dividing the sea from the sky …
The wave paused …
… breath comes and goes …
… the sky cleared …
Bars of white, green and yellow
… slowly …
… higher and then higher …
… an arc of fire …
… on the rim of the horizon …
The light struck upon the trees in the garden …
The wave paused …
A shadow falls on the path
… burning lights… flash in and out …
… red water in the white tide …
I burn, I shiver …
out of this sun, into this shadow
3
I SEE
I see a ring
I see a slab
I see a globe
I see a tassel
I hear something
again
I see
a ring
I see a slab
I see a globe
I see a tassel
I hear something
again
I see
a ring … hanging above me …
… a slab …spreading away …
… a globe … in a drop
… a tassel …
I hear something stamping …
4
LOOK
Look at the spider's web …
Look at the table-cloth …
look at the moon and night
look at the firelight
look at my face at midday
look at the sweep of the sky
look at the giant rabbit, rabbit
look at us trooping after him
look at the meat
look at her earthy, earthy fingers
look at the water-lilies
look at me as I lean forward
5
I AM THE STALK
I hold a stalk in my hand. I am the stalk. My roots go down to the depths of the world,
through earth dry with brick,
and damp earth, through veins of lead and silver. I am all fibre. All tremors shake me, and the weight of the earth is pressed to my ribs.
I am green as a yew tree in the shade of the hedge. My hair is made of leaves. I am rooted to the middle of the earth.
My body is a stalk. I press the stalk. A drop oozes from the hole at the mouth and slowly, thickly, grows larger and larger.
6
THE KISS
I
I am a boy … She has found me. (I’m a boy.) I am struck on the nape of the neck.
She has kissed me. (I am a boy.) All is shattered.
II
… kissed you, with my heart jumping under my pink frock like the leaves … I dance. I ripple. I am thrown over you like a net of light.
III
I saw her kiss him. She danced … light as dust. I saw her kiss him.
7
LOVE, HATE
I love and I hate. I desire one thing only. I love and I hate. I see you in the grass.
Though I am a child, I love and I hate.
8
NOW
This is here, … this is now. But soon we shall go. We shall walk. We shall part.
This is only here; this is only now.
This is our world, lit with crescents and stars of light … Everything is strange. Things are huge and very small.
9
I DO NOT KNOW
What is the phrase for the moon?
And the phrase for love?
By what name are we to call death? I do not know.
I have done with phrases.
How much better is silence
How much better to sit by myself
Let me sit here for ever with bare things,
this coffee-cup, this knife, this fork,
let me sit on and on, silent, alone.
The stars draw back and are extinguished.
The bars deepen themselves between the waves.
Yes, this is the incessant rise and fall and fall and rise again.
And in me too the wave rises. It swells; it arches its back
Against you I will fling myself, unvanquished and unyielding, O Death!
Aus "The Waves" von Virginia Woolf
Richard Strauss
Waldseligkeit
Der Wald beginnt zu rauschen,
den Bäumen naht die Nacht,
als ob sie selig lauschen,
berühren sie sich sacht.
Und unter ihren Zweigen,
da bin ich ganz allein,
da bin ich ganz mein eigen:
ganz nur Dein!
Richard Dehmel
Die Nacht
Aus dem Walde tritt die Nacht,
Aus den Bäumen schleicht sie leise,
Schaut sich um in weitem Kreise,
Nun gib acht.
Alle Lichter dieser Welt,
Alle Blumen, alle Farben
Löscht sie aus und stiehlt die Garben
Weg vom Feld.
Alles nimmt sie, was nur hold,
Nimmt das Silber weg des Stroms,
Nimmt vom Kupferdach des Doms
Weg das Gold.
Ausgeplündert steht der Strauch,
Rücke näher, Seel an Seele;
O die Nacht, mir bangt, sie stehle
Dich mir auch.
Hermann von Gilm zu Rosenegg
Traum durch die Dämmerung
Weite Wiesen im Dämmergrau;
die Sonne verglomm, die Sterne ziehn;
nun geh’ ich hin zu der schönsten Frau,
weit über Wiesen im Dämmergrau,
tief in den Busch von Jasmin.
Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
mich zieht ein weiches, samtenes Band
durch Dämmergrau in der Liebe Land,
in ein blaues, mildes Licht.
Otto Julius Bierbaum
Gustav Mahler
Um Mitternacht
Um Mitternacht,
hab' ich gewacht,
und aufgeblickt zum Himmel;
kein Stern vom Sterngewimmel
hat mir gelacht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab' ich gedacht,
hinaus in dunkle Schranken.
Es hat kein Lichtgedanken
mir Trost gebracht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
Nahm ich in acht
die Schläge meines Herzens;
ein einz'ger Puls des Schmerzens
war angefacht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
kämpft' ich die Schlacht,
o Menschheit, deiner Leiden;
nicht konnt' ich sie entscheiden
mit meiner Macht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
hab' ich die Macht
in deine Hand gegeben!
Herr! über Tod und Leben
du hältst die Wacht
um Mitternacht!
Friedrich Rückert
Im Abendrot
(Adagietto aus der Sinfonie Nr. 5)
Wir sind durch Not und Freude
gegangen Hand in Hand,
Vom Wandern ruhen wir beide
nun überm stillen Land.
Rings sich die Täler neigen,
Es dunkelt schon die Luft,
Zwei Lerchen nur noch steigen
nachträumend in den Duft.
Tritt her, und lass sie schwirren,
bald ist es Schlafenszeit,
dass wir uns nicht verirren
in dieser Einsamkeit.
O weiter, o stiller Friede!
so tief im Abendrot,
wie sind wir wandermüde,
ist das etwa der Tod?
Joseph von Eichendorff
KÜNSTLERBIOGRAFIEN
Marcus Creed
Marcus Creed ist an der Südküste Englands geboren und aufgewachsen. Er begann sein Studium am King’s College in Cambridge, wo er Gelegenheit hatte, im berühmten King’s College Choir zu singen. Weitere Studien führten ihn an die Christ Church in Oxford und die Guildhall School in London. Seit 1977 lebt Marcus Creed in Deutschland. Stationen seiner Arbeit waren die Deutsche Oper Berlin, die Hochschule der Künste sowie die Gruppe Neue Musik und das Scharoun Ensemble. Von 1987 bis 2001 war Marcus Creed Künstlerischer Leiter des RIAS Kammerchores, von 1998 bis 2016 folgte er einem Ruf auf eine Dirigierprofessur an der Musikhochschule Köln.

Von 2003 bis Sommer 2020 war Marcus Creed Künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles. Im Anschluss hat das Ensemble ihn zu seinem Ehrendirigenten ernannt. Das besondere Anliegen von Marcus Creed mit diesem Ensemble galt in dieser Zeit der Wiederaufführung herausragender Kompositionen der jüngsten Vergangenheit, darunter Werke von Luigi Nono, György Kurtág, Wolfgang Rihm und Heinz Holliger. Marcus Creed ist regelmäßiger Gast bei internationalen Festivals und Spezialensembles der Alten und Neuen Musik. Von 2015 bis 23 war er außerdem Chefdirigent des Kammerchores des Dänischen Rundfunks. Die vielen CD-Veröffentlichungen von Marcus Creed mit dem SWR Vokalensemble wurden für ihre stilsicheren und klangsensiblen Interpretationen mit internationalen Auszeichnungen prämiert, darunter der Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik, der Edison Award, der Diapason d’Or, der ECHO Klassik und der Cannes Classical Award.
SWR Vokalensemble
Der Rundfunkchor des SWR gehört zu den internationalen Spitzenensembles unter den Profichören. Die instrumentale Klangkultur und stimmliche wie stilistische Flexibilität des Vokalensembles suchen ihresgleichen und begeistern Publikum, Dirigenten und Komponisten im In- und Ausland. Mehr als 300 Werke sind in den vergangenen Jahrzehnten für das SWR Vokalensemble entstanden und jedes Jahr kommen neue hinzu. Neben der zeitgenössischen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble vor allem den anspruchsvollen Chorwerken der Romantik und der klassischen Moderne.

Von 2004 bis 2020 war Marcus Creed der Chefdirigent des SWR Vokalensembles. Unter seiner Leitung wurde das SWR Vokalensemble für seine kammermusikalische Interpretationskultur und seine stilsicheren Interpretationen vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik, dem ECHO Klassik, dem Diapason d’Or, dem Choc de la Musique und dem Grand Prix du Disque. Künstlerischer Leiter ist seit 2020 Yuval Weinberg, der 2022 mit dem SWR Vokalensemble eine Gesamtaufnahme aller Chorwerke von György Ligeti vorlegte, die u. a. mit dem Jahrespreis Diapason d’Or sowie dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde.
BESETZUNG
KONZERTVORSCHAU
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Sonstige Informationen
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Impressum
Chormanagement
Dorothea Bossert
Redaktion
Ilja Stephan
Text
Die Werkgespräche von Martina Seeber und Dorothea Bossert sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Werkkommentare von Clytus Gottwald sind als Vorwort zu den Noteneditionen beim Carus-Verlag und der Universal-Edition veröffentlicht.