Das Tetzlaff Quartett in Residenz bei den Schwetzinger SWR Festspielen

Family Affairs

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Es sind oft die musikalischen Urerlebnisse, die den Grundstock des Gedächtnisses bilden, Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend, wo man, noch unbeleckt von äußeren Umständen, aufnahmefähig ist wie ein Blatt weißes Papier. Die Mitglieder des Tetzlaff-Quartetts dürften so gesehen alle musikalisch »vorbelastet« sein, ja sogar in musikalischen »family affairs« verbunden.

Die Geschwister Christian (Primarius) und Tanja (Cello) sind Geschwister aus einem Pfarrhaushalt, in dem viel gesungen und musiziert wurde. Elisabeth Kufferath an der zweiten Geige stammt aus einer großen, weit verzweigten Musikerfamilie. Ihr Onkel Hans-Wilhelm Kufferath war 30 Jahre Cellist im Bayreuther Festspielorchester, ihr Urgroßvater Wilhelm, ebenfalls Cellist, war noch mit Wagner, Brahms, Hans von Bülow und Leo Blech bekannt. Hanna Weinmeister, aus einer Salzburger Musikerfamilie stammend, ist Bratscherin im Tetzlaff-Quartett und außerdem Geigerin im Trio Weinmeister, zusammen mit ihren Geschwistern Gertrud (Bratsche) und Bruno (Cello). Hanna Weinmeister und Elisabeth Kufferath sind beide Doppelbegabungen für Violine und Viola: Hanna auch als Konzertmeisterin im Opernhaus Zürich, Kufferath auf ihrer Solo-CD Two, auf der sie sich als Geigerin und Bratscherin der zeitgenössischen Musik widmet, u. a. den beiden Solosonaten für Violine und Viola von Bernd Alois Zimmermann. Auch sie kennt die Orchesterarbeit als Konzertmeisterin bei den Bamberger Sinfonikern – eine Position, die sie zugunsten einer Professur für Violine in Detmold und später in Hannover aufgab.

Aber damit sind die »family affairs« noch nicht erschöpft. Tanja Tetzlaff ist mit dem Geiger Florian Donderer verheiratet, Konzertmeister bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen – der übrigens auch Tanja eine Zeit lang angehörte – und selbst Primarius des Signum-Quartetts. Und noch eine Gemeinsamkeit: Christian Tetzlaff, Hanna Weinmeister und Elisabeth Kufferath spielen ein modernes Instrument des Geigenbauers Peter Greiner. Nur Tanja schwört auf ihren »Freund«, das historische Cello von Giovanni Battista Guadagnini aus dem Jahr 1776.

Trotz dieser engen Familienbande sind die Mitglieder des Tetzlaff-Quartetts gleichzeitig musikalische Einzelgänger, die ihre eigenen solistischen und kammermusikalischen Wege außerhalb des Quartetts gehen. Am stärksten natürlich Christian Tetzlaff, der weltweit gefragte Solist ohne Starallüren und Facebook-Aktivitäten, Interpret auch ausgefallener oder eher gemiedener Violinkonzerte, wie etwa von Joseph Joachim, Edward Elgar oder Jörg Widmann. »Im Quartett kommen wir vier aus verschiedenen Ecken. Man versucht, sich anzugleichen, aber dass die Dinge klanglich etwas unterschiedlicher sind, ist auch eine Qualität.« Perfektion ist für Christian Tetzlaff ohnehin ein zweischneidiger Begriff: »ein Kind, das sieben Stunden am Tag übt, ist ein Fall für UNICEF, finde ich. Das ist wie Kinderarbeit, auch wenn es vielleicht schöner anmutet als irgendwo in einer Fabrik zu arbeiten, aber es ist ein emotionaler Stress für etwas, was eigentlich die größte Befreiung und Ausdruck seelischer Freiheit sein sollte.« Und Tanja assistiert: »Kammermusik ist für uns eine Herzensangelegenheit. Man kann ganz intim arbeiten mit einem fantastischen und unendlich abwechslungsreichen Repertoire.«

Schwetzinger SWR Festspiele 2018
Tanja Tetzlaff bei den Schwetzinger SWR Festspielen 2018

Doch das schon vereinbarte Programm für die drei Konzerte in Schwetzingen musste aus traurigem Anlass kurz vor der Drucklegung revidiert werden: Tetzlaffs langjähriger Klavierpartner, Gründer und Leiter des Kammermusik-Festivals »Spannungen« in Heimbach, Lars Vogt, war am 5. September 2022, drei Tage vor seinem 52. Geburtstag, gestorben. Mit ihm wollte das Tetzlaff-Quartett seine Reihe in Schwetzingen eröffnen. Sein Tod kam nicht überraschend, und Christian Tetzlaff erzählt in einem Interview im VAN Magazin über Vogts letzte Tage in Erlangen, wo viele Musikerfreunde für ihn gespielt und mit ihm geredet hatten, »mit einem Übermaß an Liebe zwischen allen.« Über ein Vierteljahrhundert lang waren der Geiger und der Pianist als Tetzlaffs »innigster Kumpan« befreundet, waren einander Seelengefährten, wobei Tetzlaff nicht zwischen dem Musiker und der Person unterscheiden kann. Musik könne nur in Freiheit und Liebe ganz sprechen: »und das ist etwas, was man mit ganz wenigen Musikern so erfahren kann wie mit Lars.« An welche gemeinsame Aufführung wird er sich besonders erinnern? »Wir haben beim Abschlusskonzert in Heimbach (am 26. Juli 2022) das große Brahms c-Moll-Klavierquartett gespielt, das sich als Thema sogar mit dem Tod auseinandersetzt. Er hatte Corona und zwei Wochen starke Chemotherapie hinter sich, und hat gespielt wie ein Gott. Wie haben alle im Hinterkopf und im Bauch das Gefühl gehabt, dass es wahrscheinlich das letzte Mal ist, dass wir dieses Stück zusammen spielen. Und dann haben wir mit einem E-Piano im Krankenhaus die gesamte G-Dur-Violinsonate durchgespielt. Ich erwähne diese beiden, weil gerade dieser Komponist Lars und mir in wirklich tiefen Seelenlagen der nächste ist, vielleicht weil er nicht ganz so übermenschlich daherkommt wie andere, oder mit einer solchen Verzweiflungssucht, sondern weil er – um sein Requiem zu zitieren – sagt: Ich will Dich trösten wie eine Mutter Dich tröstet. Brahms ist der Komponist, der uns am meisten über die Jahre verbunden hat.« Vor diesem Hintergrund kommt dem Streichquartett a-Moll op. 51 Nr. 2 von Brahms, das die Konzertreihe des Tetzlaff-Quartetts in Schwetzingen beschließen wird, selbst die Bedeutung eines Requiems zu. Sein zweiter Satz, Andante moderato, ist ohnehin ein Spiegel der sich schutzlos preisgebenden Brahms’schen Gefühlswelt.

Vom ursprünglichen Programm des Eröffnungskonzerts blieb das Joseph Haydn gewidmete, chromatisch aufgeladene Streichquartett Es-Dur KV 428 von Wolfgang Amadeus Mozart erhalten, umrahmt nun von zwei weiteren reinen Streicherwerken vom Widmungsträger Haydn und von Felix Mendelssohn-Bartholdy anstelle einer mit Klavier durchmischten Konzertabfolge. In ihrem Schwetzinger Quartettprogramm findet sich auch ein echtes Verluststück, die Lyrische Suite von Alban Berg: musikalische Beschwörung seiner Liebe zu Hanna Fuchs, der verheirateten Schwester von Franz Werfel. Die Anfangsbuchstaben ihres Namens H F und seines eigenen A B lassen sich auch in Noten darstellen, für die Töne h – f – a – b: das Motivmaterial für eine wenigstens musikalisch geglückte Umschlingung. Doch der weitere Verlauf erfüllt das Motto der diesjährigen Schwetzinger SWR-Festspiele: Vanitas. Ein Presto delirando, ein Tristan-Zitat im sechsten, im vierfachen piano der Geige und im morendo der Bratsche verlöschenden Satz Largo desolato, versinken/ertrinken in Vergeblichkeit.

Da wir unser Quartett einst mit Schönbergs erstem Streichquartett aus der Taufe hoben, freuen wir uns besonders auf sein zweites – wegweisend und neue Räume eröffnend!

Beim zweiten Abend der Artists-in-residence wird die Sopranistin Sarah Maria Sun zusammen mit dem Tetzlaff-Quartett das zweite Streichquartett op. 10 von Arnold Schönberg vortragen. Zwei Gedichte von Stefan George liegen den Sätzen drei und vier zugrunde, die Litanei und die Entrückung. Diese beginnt mit der berühmten Zeile: »ich spüre luft von anderem planeten« und beschreibt eine Elevation: »ich löse mich in tönen, ich fühle mich wie über letzter wolke«, »ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.«

Im zweiten Satz wird zwar kein Gedicht gesungen, aber das Publikum könnte kurz mitsummen, wenn Schönberg – mottogerecht – in der zweiten Geige das Wiener Lied O, du lieber Augustin zitiert: »Geld ist hin, Mädl ist hin, alles ist hin, Augustin.« Ob Schönberg hier auf seine Ehekrise mit Mathilde anspielt, die ein Verhältnis mit dem Maler Richard Gerstl hatte, ist Spekulation. Aber es wäre auf jeden Fall eine Überlegung wert und nicht zuletzt auch die Erfüllung von Christian Tetzlaffs selbst gestellter Aufgabe als Interpret: Geschichten zu erzählen, die großen Meisterwerke in nachvollziehbare Erfahrungen zu verwandeln, dem Komponisten gleichsam unter die Haut zu kriechen, damit er von seiner innersten, verborgensten Seite zum Sprechen gelange. Ein Interpret, der mit seinen Partnern solches erreicht, wäre ein Berufener in einer derzeit aus den Fugen geratenden Welt.

Aus einem Aufsatz von Lotte Thaler

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SWR