Buch-Tipp

Meinolf Brüser: „Es ist alles Windhauch“ – Bach und das Geheimnis der „Kunst der Fuge“

Stand
Autor/in
Jan Ritterstaedt

Viel Kontroverses ist über Bachs „Kunst der Fuge“ schon geschrieben und gesagt werden. Nun meldet sich der Autor Meinolf Brüser zu Wort. Er hat bereits mit seiner Interpretation von Bachs Motetten auf sich aufmerksam gemacht. Sein Buch trägt den etwas mystischen Titel „Es ist alles Windhauch“.

Ein Blick auf das Unvollendete

Meinolf Brüsers neues Buch kreist vor allem um die einzige unvollendete Fuge aus Bachs „Kunst der Fuge“ und den eingefügten Choral „Wenn wir in höchsten Nöthen sein“. Der Autor lässt dabei zunächst einmal bewusst alle bisherigen Erkenntnisse außen vor und versucht sich auf eine neue Art und Weise den Problemen rund um die letzte Fuge zu nähern:

Wollte Bach sie noch zu Ende bringen? Und wenn ja: wie? Sollte sie überhaupt in den Druck aufgenommen werden? Brüsers Antwort auf die letzte Frage lautet auf jeden Fall eindeutig: ja!

Wenn wir die Indizien bewerten, so spricht dafür unmittelbar die Überzeichnung des Custos, die von einer darunter liegenden Konzeption zeugt. Darüber hinaus fallen zwei kurze Beweisketten besonders ins Gewicht, die an starke Besonderheiten anknüpfen. Da ist zunächst die Umstellung des Choralvorspiels, dessen Zugehörigkeit zum Druck ohne die abbrechende Fuge nicht plausibel ist [...]“

Ius et musica

Indizien und Beweisketten – beide Begriffe sind ein Indiz für Brüsers Methodik. Er bedient sich der Technik der Beweisführung durch verschiedene Indizien. Der Autor stellt zunächst Hypothesen auf, die er dann dadurch wahrscheinlicher werden lässt, dass er alternative Hypothesen ausschließt.

So versucht er die Geschichte der Konzeption und des Drucks von Bachs Kunst der Fuge zu rekonstruieren. Vor allem aber möchte er eine Erklärung für den Abbruch der „Fuga a tre soggetti“ finden. Die Erklärung für diese Vorgehensweise steckt in der Person des Autors selbst: er ist Jurist und Musikwissenschaftler.

Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach – Contrapunctus I mit Daniil Trifonov am Klavier

Daniil Trifonov – Bach: The Art Of Fugue, BWV 1080: Contrapunctus 1

Kriminalgeschichte einer Fuge

Meinolf Brüser führt den Leser seines Buches durch eine Art Kriminalgeschichte über den Fall „Kunst der Fuge“. Schritt für Schritt schließt er alternative Hypothesen aus, überprüft zahlreiche Details, indem er sorgfältig die Gestaltung der erhaltenen Druckvorlagen und des Autografs der Kunst der Fuge unter die Lupe nimmt.

In seinem Fokus stehen vor allem Besonderheiten, kleine Kritzeleien oder Fehler auf dem Papier, die von der Norm abweichen. So kommt er schließlich zu einem verblüffenden Ergebnis:

Bach inszeniert im Abbruch der Fuge metamusikalisch das Ende des eigenen Komponierens und thematisiert damit menschliche Unvollkommenheit vor Gott und damit den Vanitasgedanken. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Konstruktion liegt in der als bewusst gefertigt zu erkennenden fehlerhaften Rastrierung.“

Damit meint Meinolf Brüser eine Stelle auf dem Blatt mit der abbrechenden Fuge, wo eine der fünf Notenlinien fehlt. Bach hat dafür eine Art Gabel mit fünf Zinken verwendet, die er dann in Tinte getaucht hat. So lassen sich leicht gerade Notenlinien auf einem Blatt Papier ziehen.

An dieser zentralen Stelle im Buch wird man allerdings stutzig: reicht dieses Detail wirklich aus, um die abbrechende Fuge zu einem bewussten Statement der eigenen Unvollkommenheit zu machen?

Album-Tipp zur Kunst der Fuge als Neuschöpfung

Wahrheit vs. Erfindung

Bach war ein gläubiger Christ und hat sicher den Gedanken der Vanitas, der eigenen Unvollkommenheit, gekannt. Aber warum sollte er diese Idee auf einem Blatt „inszenieren“ (so die Formulierung des Autors), das für nur wenige Augen bestimmt gewesen ist und mit den vermeintlich bewussten Fehlern sicherlich niemals in den Druck gegangen wäre?

Meinolf Brüsers letzte Schlüsse zur Funktion der abbrechenden Fuge überzeugen nicht auf ganzer Linie. Dazu lehnt der Autor entsprechend seiner indiziellen Beweisführung die wenigen Schriftzeugnisse zur Kunst der Fuge als durchweg unwahr ab.

Die von den Herausgebern des Drucks der Erstauflage vorangestellte Nachricht ist falsch, aber nicht frei erfunden. Sie enthält – wie falsche Geschichten häufig – einen Wahrheitskern, nämlich die von Bach inszenierte Geschichte.“

Die Kunst der Fuge erklärt

Sehr lesenswert

Das Buch könnte den Eindruck erwecken, dass sich Meinolf Brüser zu sehr von seinem persönlichen Bach-Bild des unangefochtenen Genies der Fuge leiten lässt. Bach kann und darf seiner Meinung nach offenbar nicht scheitern: er muss das letzte Blatt mit der abbrechenden „Fuga a tre soggetti“ mit einem übergeordneten Sinn erfüllt haben.

Meinolf Brüsers Buch trägt den Titel „Es ist alles Windhauch“. Mit diesem Bibelzitat spielt er auf seine These von Bachs Inszenierung des christlichen Vanitas-Gedankens an. Ganz unabhängig davon zeigt der Autor aber eindrucksvoll auf, welche spannenden Ergebnisse sich mit kriminologischer Methodik bei musikwissenschaftlichen Fragestellungen erzielen lassen.

Insgesamt also ein sehr lesenswertes Buch mit vielen neuen Detail-Erkenntnissen zu Bachs „Kunst der Fuge“. Für 39,99 Euro ist das 177 Seiten starke Buch beim Verlag Bärenreiter/Metzler oder im Handel zu haben.

Stand
Autor/in
Jan Ritterstaedt