Musikmarkt: Buch-Tipp

„Der Klassik-Kanon“ von Joachim Mischke

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Manche Dinge haben nur ein einziges Mal Konjunktur, andere geraten nie aus der Mode. Das gilt auch für die so genannte Kanon-Debatte. Sie ist in der Literatur genauso aktuell wie in der Musik: Welche Autoren bzw. Komponisten sollte man unbedingt kennen, welche Werke auf jeden Fall gelesen oder gehört haben? Diese Fragen stellt sich auch Joachim Mischke in seinem neuen Buch „Der Klassik-Kanon“. Christoph Vratz hat es gelesen.

Nein, man muss nun nicht gleich ein Klagelied anstimmen, um festzustellen, wer alles nicht zu Joachim Mischkes „Inner circle“, zu den von ihm ausgewählten wichtigsten Komponisten gehört. Es wäre ein Leichtes, gelehrig den Finger zu heben, um festzustellen, dass in seinem neuen Buch „Der Klassik-Kanon“ Namen wie Dvořák oder Grieg, Elgar oder Rachmaninow keine Rolle spielen. Doch das weiß der Autor selbst und zieht jedem potenziellen Kritiker bereits im Vorwort diesen Zahn.

„Dieses Buch soll ein kurzer, kein erschöpfender Ratgeber sein, eine legale Einstiegsdroge in die Kunstform des Komponierens von Musik. Für Vollständigkeit ist hier kein Platz, dann wäre es bloß ein weiteres Lexikon.“

Schon auf den ersten Seiten macht der Autor klar, wo die Reise nicht hinführt und wo stattdessen die Verlockungen lauern, denn er möchte seine Leser verführen zur Faszination Musik. Nun gut, ein solches Ziel verfolgen viele, die über Musik schreiben, doch Mischke - so viel sei bereits jetzt verraten – gelingt es, diese Lust tatsächlich zu wecken, auch weil die Suche nach packender Musik immer auch eine Reise zu sich selbst bedeutet:

„Großartige Musik […] soll helfen, verwirren, verstören, aufregen, beruhigen, trösten. Was für jeden Einzelnen passt, was wichtig ist und was richtig. Das allerdings lässt sich nicht vorhersagen. Ohne Suchen kein Finden.“

44 Komponisten hat Joachim Mischke ausgewählt und stellt sie in alphabetischer Reihenfolge vor, jeder Komponist (und die zwei ausgewählten Komponistinnen) bekommt fünf Textseiten zugebilligt, und am Ende eines jeden Porträts gibt es kurze, knackige Werk-Empfehlungen zum Weiterhören mit Kategorien wie:

„Einstiegsdroge, Gipfel der Vokalkunst, Das typischste Stück, extraschwer oder: Das außergewöhnliche Stück.“

Schon mit den ersten Sätzen eines jeden Komponistenporträts bringt Mischke den Charakter oder die Bedeutung des jeweiligen Komponisten auf den Punkt:

„Es gab im 19. Jahrhundert viele Komponisten mit großen Egos und einige mit mächtig großen. Und es gab Hector Berlioz.“

Oder bei Frédéric Chopin:

„Dieser Chopin, den alle so mögen, ist längst nicht so harmlos oder gar nett, wie er viel zu oft gespielt wird. Parfüm hat da nichts zu suchen, und Sentimentalität erreicht sich sofort, weil die Musik dann Masse gewinnt, klobig wird und klebrig.“

Mit diesen einerseits präzisen, gleichzeitig immer mit einer gewissen Leichtigkeit und einem Hang zum Humoristischen ausgestatteten Beschreibungen dürfte Autor Mischke ein breites Lesepublikum gewiss sein. Denn hier dürfen sich Neugierige und Einsteiger ebenso gut aufgehoben fühlen wie all diejenigen, die schon x Biografien über Mozart, Beethoven und andere gelesen haben. Selbst mögliche Ehrfurcht vor Komponisten der neueren Zeit erstickt Mischke im Keim:

„Es wäre überhaupt nicht schwer, sich über Karlheinz Stockhausen, über einige seiner Stücke und über die selbst gestrickte Privatreligion-Philosophie-Mixtur lustig zu machen, die seine monumentalen Werke umwabert wie der Räucherkerzenduft die Selbstfindungsgruppe. Es wäre aber auch grundsätzlich verkehrt.“

Neben Stockhausen zählen auch Cage, Glass, Nono und Ligeti sowie der zuletzt zunehmend wiederentdeckte Mieczysław Weinberg zu den vorgestellten Vertretern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Den Anfang, also das andere Ende der zeitlichen Spanne, bilden Komponisten wie Claudio Monteverdi und Don Carlo Gesualdo da Venosa, dessen fünfstimmige Madrigale Mischke als „brutal schwer“ bezeichnet, weil Gesualdo

„..ihnen nie die Gnade einer eindeutigen, dauerhaften Tonalität gewährt, in der man sich klar orientieren oder gar sicher fühlen könnte. Warum sollte es den Madrigalen auch besser gehen als der geschundenen Seele dieses Komponisten?“

Joachim Mischke ist Musikkritiker und Kulturredakteur beim „Hamburger Abendblatt“. Diese Erfahrungen schlagen sich auch in diesem brillant formulierten, ebenso kurzweiligen und gleichermaßen anspruchsvollen Buch nieder. Es macht wahrhaft Lust, diese Porträts zu lesen, teils weil sie Bekanntes in Erinnerung rufen, teils weil man Neues in neuen Zusammenhängen erkennen kann, immer auf den Punkt gebracht, nie aus der Sicht des Belehrenden geschrieben. Über allem steht das, was sich der Autor eingangs selbst zum Ziel gemacht hat: die Lust an der Musik wecken.

25 Euro sind für die knapp 300 Seiten glänzend investiertes Geld. „Der Klassik-Kanon“ von Joachim Mischke ist beim Verlag Hoffmann & Campe erschienen.

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SWR