Album-Tipp

Trauermarsch mit Hingabe: Benjamin Grosvenor spielt Chopins Klaviersonaten

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Von Autor/in Christoph Vratz

„Chopin war der erste Komponist, zu dem ich ein seltsames Gefühl von Verbindung empfunden habe“, gesteht der britische Pianist Benjamin Grosvenor. Vor über fünf Jahren hat er bereits die beiden Klavierkonzerte von Chopin eingespielt, jetzt widmet er sich den Klaviersonaten Nr. 2 und 3.

Langsam kommt er angekrochen, dieser Trauerzug; unaufhörlich kommt er näher. Die Musik wird lauter und klingt nun trotzig und stolz.

Chopin: Piano Sonata No 2 in B-Flat Minor, Op 35 "Funeral March" - 3: March Funèbre. Lento

Dieser Trauermarsch hat Chopins zweite Klaviersonate weltberühmt gemacht – sogar bei Staatsbegräbnissen wird er gespielt. Die Aufnahmegeschichte ist entsprechend reich an Beispielen, wo diese Musik sich krampfhaft dehnt oder hysterisch zu schreien beginnt.

Bei Benjamin Grosvenor ist beides nicht der Fall. Zum Glück. Denn der Brite trifft den Puls einer langsam-schreitenden Bewegung genau und gestaltet die Steigerungen organisch. 

Trauermarsch mit Hingabe

Die Herzkammer dieses Trauermarsches bildet der Mittelteil, ein verträumtes Intermezzo in Dur, eine Insel des Trostes. Grosvenor deutet diese Stelle mit Hingabe: zart, innig, poetisch. 

Dieser Trauermarsch mit all seinen Kontrasten gewinnt erst an Bedeutung, wenn man sich die dramaturgische Umgebung innerhalb dieser zweiten Chopin-Sonate genauer anschaut. Ihm voraus geht nämlich ein wildes Scherzo: auch hier klingen die ersten Takte trotzig und stolz. Doch es ist ein Aufbegehren der anderen Art.

Chopin: Piano Sonata No 2 in B-Flat Minor, Op 35 "Funeral March" - 2: Scherzo - Più Lento

Im besten Sinne unbeirrbar

Benjamin Grosvenor spielt das im besten Sinne unbeirrbar. Er lässt sich nicht zu Effekten hinreißen, sondern bleibt nah am Notentext und lotet die Stimmungen dieser Musik genau aus. Und das schon in den ersten Takten des Kopfsatzes: düster und dramatisch klingen die ersten Akkorde, betont nervös die dann folgende Passage.

Der dramatische Bogen führt von diesem nervös-unruhigen Beginn unmittelbar zum Finale. Das ist ein rätselvoller Satz, nur anderthalb Minuten kurz, ein permanentes Raunen, ohne Richtung, ohne Ziel, ein gespenstisches Irrlichtern – und genau so gestaltet Benjamin Grosvenor dieses Finale.

Chopin: Piano Sonata No 2 in B-Flat Minor, Op 35 "Funeral March" - 4: Finale: Presto

Melancholie und Trost gehen Hand in Hand

Einen Gegenentwurf zu diesem Schluss der zweiten Sonate bildet das Scherzo in Chopins dritter Klaviersonate. Die unruhevolle Bewegung ist von ihrem Grundpuls her ähnlich, doch statt eines dunklen Raunens hören wir, wie Grosvenor die Musik funkeln und blitzen lässt.

Ständige Bewegungen hier, markant kantige Rhythmen dort. Das Largo beginnt wie ein Schrei der Verzweiflung.

Chopin: Piano Sonata No 3 in B Minor, Op 58 - 3: Largo

Grosvenor fängt die anschließende Verwandlung geschickt ein. Innerhalb weniger Takte sind wir in einer völlig anderen Region: Melancholie und Trost gehen sanft Hand in Hand. 

Nicht die spektakulärste Aufnahme, aber eine Suche nach Chopins Wahrhaftigkeit

Es ist ein großes Verdienst dieser Aufnahme, dass Benjamin Grosvenor nie nach Übertreibungen sucht. Entsprechend natürlich klingt sein Klavierspiel.

Gewiss, es gibt deutlich spektakulärere Aufnahmen dieser beiden Klaviersonaten. Grosvenor jedoch sucht nach ihrem Kern, und damit nach Wahrhaftigkeit in dieser Musik. Das macht das Album so interessant und wertvoll.

Auch die Ergänzungen – Chopins Berceuse, die erste Ballade und zwei Nocturnes – besitzen einen eigenen Wert, denn auch hier bleibt Grosvenor sich und seinem Ansatz treu.

Benjamin Grosvenor - Chopin: Berceuse in D Flat Major, Op 57 (Official Music Video)

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Christoph Vratz
Künstler/in
Benjamin Grosvenor