Sie schleichen seit langem unauffällig durch die hiesige Musiklandschaft, jeder Intendant, jeder geschäftsführende Direktor eines Opernhauses dürfte sie kennen, doch bislang sind sie wissenschaftlich nicht hinreichend untersucht worden. Gemeint sind Themen, die bisweilen als heikel empfunden werden:
Wechselbeziehungen zwischen Oper und Gesellschaft,
Gesellschaftliche Umbrüche und soziale Transformationen,
Massenmedien als Vermittlungsinstanz,
Erwartungen an den Opernbesuch, Inszenierungsstile und Vermittlungsformen.
Das sind einige der insgesamt sechs thematischen Blöcke, in die der Soziologe Karl-Heinz Reuband sein Buch „Oper, Publikum und Gesellschaft“ gegliedert hat. Insgesamt zwölf Aufsätze enthält dieser Band, der ganz gezielt verschiedene Disziplinen zusammenführen möchte: Gesellschafts-, Medien-, Musik- und Theaterwissenschaft. Dabei wird (gerade im ersten Teil des Buches) mitunter weit ausgeholt, denn schon in der Barockzeit hatten neu errichtete Opernhäuser Auswirkungen auf regionales Wachstum. Erst nach rund 100 Seiten folgt der erste Beitrag, der sich mit dem Ist-Zustand im frühen 21. Jahrhundert beschäftigt, und der die Unterschiedlichkeit verschiedener Geschmacksrichtungen beim Musikkonsum unter die Lupe nimmt.
Anders gesagt: Der Hörer von morgen fühlt sich nicht mehr ausschließlich in bestimmten Stilen und Genres zuhause, sondern er ist offener verschiedenen Richtungen gegenüber. Er geht nicht nur in die Oper oder ins Rock-Konzert, sondern erweist sich als flexibler Wechselgänger. Welche Konsequenzen die Oper daraus letztlich ziehen sollte, bleibt allerdings zunächst unscharf. – Wie eine Antwort wirkt daher der Beitrag des Herausgebers über das Kulturpublikum in Städten und über die Frage, wie sich das Publikum der Oper von anderen Kulturkonsumenten unterscheidet. Reuband klopft Kriterien wie Alter, Geschlecht und Bildung ab:
Für Reuband steht fest: Das Kulturpublikum bildet keinen Querschnitt der Bevölkerung ab. Und: Das Opernpublikum ist nicht automatisch hochgebildet – was eindeutig gegen die oft geäußerte Annahme spricht, dass Opernbesucher tendenziell aus höheren sozialen Schichten mit größerer Bildung kommen. Reuband zeigt also, dass Oper keinesfalls ein Kulturangebot für Eliten ist. – Daran schließt ein Aufsatz an mit der Frage „Wer geht warum in die Oper?“ An dessen Ende wird klar, dass zu den Hauptmotiven eines Opernbesuches der Musikgenuss und eine bestimmte „Opernidentität“ zählen. Aber auch soziale Anerkennung spielt in bildungsbürgerlichen Milieus eine Rolle. Es gibt sie also, die Opernbesucher aus gesellschaftlichen Gründen. Daneben werden weitere Typen von Opernbesuchern gezeigt: vom Spezialisten bis zum geselligen Gelegenheitsbesucher. In die Praxis übersetzt, heißt das:
Der knapp 400 Seiten umfassende Band enthält eine Reihe von Skizzen, Tabellen, Schaubildern und am Ende jedes Aufsatzes ein detailliertes Literaturverzeichnis. Ein Buch für das breite Lesepublikum ist dies sicher nicht: Sprache, Argumentation und Umgang mit bisherigen Studien sind nicht auf den Laien ausgerichtet. Zielgruppe sind in erster Linie Wissenschaftler und Kulturschaffende. Diese wiederum finden in diesem Band eine Fülle von Beobachtungen und Anregungen, von Auswertungen und Thesen, die bedacht und kritisch geprüft werden sollten. So enthält diese Publikation manche Idee und Perspektive, wie die Institution Oper zukunftstauglich gemacht werden kann.
Buchkritik vom 28.2.2018 aus der Sendung „SWR2 Cluster“