Weder singen, tanzen oder schauspielern können, dafür aber mit gutem Aussehen und reichlich Charme glänzen, Aufmerksamkeit erregen und daraus dann Kapital schlagen – dieses Phänomen, so wird oft behauptet, sei neu und ein Ergebnis unseres Zeitalters der sozialen Netzwerke und Casting-Shows. Aber Lola Montez ist der Beweis, dass so etwas auch schon im 19. Jahrhundert funktioniert hat. Die Musik- und Tanzwissenschaftlerin Hanna Walsdorf schreibt dazu:
Eine äußerst gelungene Selbstinszenierung als Erfolgsrezept. Der Band „Bühnenrollen und Identitätskonzepte. Karrierestrategien von Künstlerinnen im Theater des 19. Jahrhunderts“ zeigt Fallbeispiele der unterschiedlichsten Frauen. In Mainz stand zum Beispiel Hedwig Materna als gefeierte Sängerin auf der Bühne und gab alle großen Wagner-Figuren. Ihre Rolleninterpretationen galten als ausgereift, als Maßstab. Wie Ursula Kramer in ihrem Aufsatz beschreibt, veröffentlichte Materna 1903 sogar ein Buch, in dem sie ihre Sicht auf alle weiblichen Figuren aus Wagner-Opern beschreibt – und damit zum Teil Wagner selbst widerspricht:
Zeitgenössische Rezensionen, die Autorin Kramer zitiert, zeigen, dass Maternas Rolleninterpretationen sowohl beim Publikum ankamen als auch von Kritikern hochgelobt wurden.
In einem anderen Aufsatz erleben wir am Weimarer Hof die Sängerschauspielerin Caroline Jagemann, der lange unterstellt wurde, sie habe als Mätresse des Herzogs dafür gesorgt, dass Johann Wolfgang von Goethe sich als Theaterleiter zurückzog. Aufsatzautorin Beate Agnes Schmidt widerlegt das detailreich und konstatiert:
Die Beiträge bilden eine Materialsammlung, in der vorwiegend erst einmal das Leben und das Wirken vieler interessanter Frauen dargestellt wird. Das ist Pluspunkt wie auch konzeptionelles Problem des Bandes: Er beruht auf einer Vorlesungsreihe an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, die zunächst ganz allgemein Bühnenkünstlerinnen im Fokus hatte. Der rote Faden „Karrierestrategien“ wurde erst im Nachhinein, aus dem Material heraus, entwickelt. Die Unterteilung in Unterkategorien wie „Arbeiten in Netzwerken“ oder „Hinwendung zum Populären“ erscheint an manchen Stellen erzwungen.
Sängerin, Komponistin, Lehrerin, Musikerin, Arrangeurin und Herausgeberin Pauline Viardot-Garcia war eine sicher brillante Netzwerkerin. Bei Sängerpaar Vogl, beide Wagner-Spezialisten, kann man immerhin die Ehe als Netzwerk betrachten. Aber um herauszufinden, warum Maren Bagges Aufsatz über englische Sängerinnen unter der Kategorie „Hinwendung zum Populärem“ gefasst wird, muss man schon einigen guten Willen mitbringen, denn die inhaltliche Verbindung ist sehr lose.
Dennoch bleibt der Band erhellend – und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits als Blick auf die andere Hälfte der Musikkultur des 19. Jahrhunderts, eben die weibliche Seite;andererseits als Schlaglicht auf die Welt der Ausführenden. Es sind also zwei Schritte weg von der – immer noch – auf Werk und männliches Schöpfergenie konzentrierten Kunstwissenschaft. Und die lohnen sich.
Buchkritik vom 1.2.2017 aus der Sendung „SWR2 Cluster"