Album-Tipp

Mount Everest im Bach-Repertoire: Raphaël Pichon dirigiert die h-Moll-Messe

Stand

Von Autor/in Stähr Susanne

Der 40-jährige Dirigent Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion haben sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben. Doch dabei geht Pichon nicht dogmatisch vor, er hat für sich neue Freiheiten entwickelt. Jetzt hat er sich den Gipfel der Bach’schen Sakralmusik vorgenommen: die h-Moll-Messe.

Wie ein Lauffeuer musizieren Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion das Gloria aus Bachs h-Moll-Messe: Die Flammen schlagen empor, sie entfachen einen Flächenbrand, mit dem der heilige Geist sich ausbreitet.

Sie rufen die frohe Botschaft hinaus in die Welt. Buchstäblich begeistert, sodass es gar nicht schnell genug gehen kann. Alle sollen es wissen!

Mass in B Minor, BWV 232: I. Missa. Kyrie, Gloria: No. 1, Kyrie eleison I

Ein Kollektiv entflammter Individuen

Dabei führt Pichon weder das Orchester noch den mit 30 Stimmen schlank besetzten Chor wie einen Block. Man hört eher ein Kollektiv vieler entflammter Individuen: Jede Stimme zählt bei diesem unablässigen Rufen und Antworten. 

Es entsteht ein tänzerischer Strom rotierender Bewegungen. Das Musizieren wirkt frei und aktiv, es ist ereignisreich bis ins kleinste Detail. Und auf eine mitreißende Art beschwingt.

Raphael Pichon mit buntem, blumengeschmückten Schal in den Straßen von New York
Der 40-jährige Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion werden in ihrer französischen Heimat seit langem für ihren herausragenden Klang gefeiert.

Kreuzigung als handgreifliches Drama

Wie aber funktioniert das Konzept, wenn es brutal zur Sache geht? Pichon vergegenwärtigt das Crucifixus als handgreifliches Drama. Er führt uns das Einhämmern der Nägel und die qualvolle Prozedur der Kreuzigung drastisch vor Ohren. 

Auch der Lamento-Bass klingt wie eine gnadenlose Misshandlung, Schlag um Schlag. Der Chor ist dagegen auf das menschliche Mitgefühl ausgerichtet. Er bringt mit schmerzerfüllten Melodiebögen die Trauer und Empörung zum Ausdruck.

Und doch erwächst aus der ohnmächtigen Qual neuer Trost: die Kraft der Mitmenschlichkeit. Die Gemeinde versammelt sich um das Kreuz im geteilten Leid. Ein humanes und solidarisches Musizieren.

Mass in B Minor, BWV 232: II. Symbolum Nicenum. Credo: No. 17, Crucifixus

Schwereloser Auferstehungsjubel

Aber dann fliegen sie davon. Als tönende Himmelfahrt gestaltet Pichon die Auferstehung im luftigen, schwerelosen Auftrieb. Die ganze Last der Hinrichtung Christi fällt in sich zusammen, nichts drückt die Musik jetzt mehr zu Boden. 

Und diese ausgelassene Unbeschwertheit übersetzt er in flotte, zündende Tempi. Pichon feuert die Sängerinnen und Sänger an, die selbst die schwierigsten Koloraturen so virtuos ausführen, dass alles schwerelos voraneilt. Der Auferstehungsjubel findet kein Halten mehr. Was zählt, ist das Wir.

Mass in B Minor, BWV 232: II. Symbolum Nicenum. Credo: No. 18, Et resurrexit

Nicht auf Überwältigung angelegt

Das Sanctus ist bei Pichon keine ferne himmlische Erscheinung, sondern verströmt Wärme und Zusammenhalt.

Nichts ist hier auf Überwältigung angelegt. Die Musik geht von Herz zu Herzen, sie schwillt wellenartig an und ab, wie bei einem Reigen. Wir haken uns unter. Das Heilige wird nicht von oben verfügt, es entsteht als Graswurzelbewegung von unten. Und so endet alles im vollkommenen Glück.

Mass in B Minor, BWV 232: III. Sanctus: No. 22, Sanctus. Pleni sunt cœli

Raphaël Pichon gestaltet die h-Moll-Messe warm und einladend

Eine unwiderstehliche Aufwärtsbewegung zieht uns mit bei dieser inständigen Bitte um Frieden. Raphaël Pichon gestaltet sie leuchtend, befreiend und warmherzig. Das Ideal bleibt der Gesang, bleibt das menschliche Maß. Und jeder kann mit einstimmen.

Diese Deutung der h-Moll-Messe ist einladend und aufbauend. Man wird nicht eingeschüchtert oder unterworfen, sondern aufgerichtet. Was für ein Gewinn!

Barocke Rad-Tour Bach-Radeln in Karlsruhe und Umgebung: Sport mit der Musik von Bach

Am 11. Mai fand zum dritten Mal das Bach-Radeln bei Karlsruhe statt. Kirchen und vor allem deren Orgeln sollen dabei vorgestellt werden, zu Musik von Johann Sebastian Bach.

Treffpunkt Klassik SWR Kultur

Album-Tipp Bach in und außer „Gittern“: Bach Uncaged mit Mina Gajic & Zachary Carrettin

Auf ihrem neuen Album “Bach UnCaged” kombinieren die Pianistin Mina Cajić und der Violinist Zachary Carrettin Johann Sebastian Bachs Violinsonate in G-Moll mit John Cages „Sonatas and Interludes for Prepared Piano“ – und erschaffen einen neuen Hör-Raum, in dem das Altbekannte ganz ungewohnt klingen darf. Hannah Schmidt hat sich die CD angehört.

Treffpunkt Klassik SWR Kultur

Erstmals in Stuttgart Von Bach verehrt: Bachchor Stuttgart führt Stölzels „Brockes-Passion“ auf

Vor 300 Jahren erklang erstmals Stölzels Oratorium „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“. Lange verschollen, hat es nun seine Stuttgarter Erstaufführung.

Treffpunkt Klassik SWR Kultur

Stand
Autor/in
Stähr Susanne
Künstler/in
Pygmalion, Raphaël Pichon (Musikalische Leitung)