Der 40-jährige Dirigent Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion haben sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben. Doch dabei geht Pichon nicht dogmatisch vor, er hat für sich neue Freiheiten entwickelt. Jetzt hat er sich den Gipfel der Bach’schen Sakralmusik vorgenommen: die h-Moll-Messe.
Wie ein Lauffeuer musizieren Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion das Gloria aus Bachs h-Moll-Messe: Die Flammen schlagen empor, sie entfachen einen Flächenbrand, mit dem der heilige Geist sich ausbreitet.
Sie rufen die frohe Botschaft hinaus in die Welt. Buchstäblich begeistert, sodass es gar nicht schnell genug gehen kann. Alle sollen es wissen!
Ein Kollektiv entflammter Individuen
Dabei führt Pichon weder das Orchester noch den mit 30 Stimmen schlank besetzten Chor wie einen Block. Man hört eher ein Kollektiv vieler entflammter Individuen: Jede Stimme zählt bei diesem unablässigen Rufen und Antworten.
Es entsteht ein tänzerischer Strom rotierender Bewegungen. Das Musizieren wirkt frei und aktiv, es ist ereignisreich bis ins kleinste Detail. Und auf eine mitreißende Art beschwingt.

Kreuzigung als handgreifliches Drama
Wie aber funktioniert das Konzept, wenn es brutal zur Sache geht? Pichon vergegenwärtigt das Crucifixus als handgreifliches Drama. Er führt uns das Einhämmern der Nägel und die qualvolle Prozedur der Kreuzigung drastisch vor Ohren.
Auch der Lamento-Bass klingt wie eine gnadenlose Misshandlung, Schlag um Schlag. Der Chor ist dagegen auf das menschliche Mitgefühl ausgerichtet. Er bringt mit schmerzerfüllten Melodiebögen die Trauer und Empörung zum Ausdruck.
Und doch erwächst aus der ohnmächtigen Qual neuer Trost: die Kraft der Mitmenschlichkeit. Die Gemeinde versammelt sich um das Kreuz im geteilten Leid. Ein humanes und solidarisches Musizieren.
Schwereloser Auferstehungsjubel
Aber dann fliegen sie davon. Als tönende Himmelfahrt gestaltet Pichon die Auferstehung im luftigen, schwerelosen Auftrieb. Die ganze Last der Hinrichtung Christi fällt in sich zusammen, nichts drückt die Musik jetzt mehr zu Boden.
Und diese ausgelassene Unbeschwertheit übersetzt er in flotte, zündende Tempi. Pichon feuert die Sängerinnen und Sänger an, die selbst die schwierigsten Koloraturen so virtuos ausführen, dass alles schwerelos voraneilt. Der Auferstehungsjubel findet kein Halten mehr. Was zählt, ist das Wir.
Nicht auf Überwältigung angelegt
Das Sanctus ist bei Pichon keine ferne himmlische Erscheinung, sondern verströmt Wärme und Zusammenhalt.
Nichts ist hier auf Überwältigung angelegt. Die Musik geht von Herz zu Herzen, sie schwillt wellenartig an und ab, wie bei einem Reigen. Wir haken uns unter. Das Heilige wird nicht von oben verfügt, es entsteht als Graswurzelbewegung von unten. Und so endet alles im vollkommenen Glück.
Raphaël Pichon gestaltet die h-Moll-Messe warm und einladend
Eine unwiderstehliche Aufwärtsbewegung zieht uns mit bei dieser inständigen Bitte um Frieden. Raphaël Pichon gestaltet sie leuchtend, befreiend und warmherzig. Das Ideal bleibt der Gesang, bleibt das menschliche Maß. Und jeder kann mit einstimmen.
Diese Deutung der h-Moll-Messe ist einladend und aufbauend. Man wird nicht eingeschüchtert oder unterworfen, sondern aufgerichtet. Was für ein Gewinn!
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