Alfred Brendel ist vor allem als einer der großen Pianisten der letzten Jahrzehnte bekannt. Doch hat er sich immer wieder auch als Autor betätigt, hat spitzfindige Gedichte geschrieben und hellsichtige Essays. Jetzt hat der mittlerweile 94-jährige Brendel ein Buch mit dem Titel „Naivität und Ironie“ veröffentlicht – mit Essays und Gesprächen.
Naivität und Ironie als Merkmale eines Genies
Was sind die wesentlichen Merkmale eines wahren Genies? Nach einer Aufführung von Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ verfasste der Komponist Carl Friedrich Zelter einen Aufsatz darüber und bezeichnete als wichtigste Merkmale des wahren Genies: Naivität und Ironie.

Mit diesen Begriffen ist auch das neue Buch von Alfred Brendel übertitelt. Dazu schreibt er:
„Diese beiden Qualitäten erscheinen uns als Gegensätze wie Vertrauen und Zweifel, Unmittelbarkeit und Distanz, Natur und Idee, Einfachheit und Kompliziertheit, Spontaneität und Rationalität. […] Der springende Punkt ist nicht, entweder naiv oder ironisch zu sein, sondern beides.“
Über die musikalischen Bedürfnisse Goethes
Die titelgebende Formulierung „Naivität und Ironie“ steht über dem ersten von insgesamt fünf Essays, die die erste Abteilung von Brendels Buch bilden. Der Eingangstext handelt von den „musikalischen Bedürfnissen“ Goethes. Die Musik, so Brendel, war dem berühmten Dichter ein Grundbedürfnis, vor allem in den Formen Lied und Gesang.
Brendel wagt auf rund 20 Seiten eine tour d’horizon über ein in weiten Teilen komplexes Thema, das andere Autoren zu ganzen Büchern animiert hat. Insofern ist dieser Essay ein Streifzug, ein Aperçu – nicht mehr, nicht weniger, auswählend, kurzweilig, wissend.
Haynd oft unterschätzt
Die drei folgenden Essays beschäftigen sich mit den Komponisten, mit denen sich Alfred Brendel auch als Pianist ein Leben lang intensiv auseinandergesetzt hat: Beethoven, Mozart und Haydn, dessen oft unterschätzten Rang Brendel mit wenigen Zeilen auf den Punkt bringt:
„Er war ironisch, ‚sophisticated' […], dabei revolutionär, aber auch simpel. Er war der Hausfreund, der immer willkommen ist, uns aber nichts Neues mehr zu bieten hat, oder auch ein Meister der Überraschung und Verblüffung. Er verkörpert zugleich Harmonie und Widerspruch, Risiko und innere Sicherheit.“

Brendel arbeitet genau heraus, warum Haydn den Begriff Genie verdient: weil er nicht nur komponiert, sondern „Musik immer wieder neu erfunden“ hat; weil er mit dem Hörer spielt und wir als Hörerinnen und Hörer dieses Spiel dankbar annehmen. Brendel nennt, ganz konkret, eine Reihe von Ausdrucksmitteln, mit denen Haydn seine einzigartige Wirkung erzielt:
„Scheinbare Geistesabwesenheit, die plötzlichen Unterbrechungen, die Motivwiederholungen, das Auf-der-Stelle-Treten, die unvermittelten Kraftausbrüche, die vorgetäuschte Naivität neben der echten, das musikalische Augenzwinkern, der Einfall, ein Werk statt mit dem Anfang mit dem Schluss zu beginnen, das grundlose Insistieren, die Freude am Unerwarteten. Nicht zu vergessen die Pointen der Instrumentation.“
Alfred Brendel spielt Haydns Klaviersonaten
Was bedeutet eigentlich Spätstil?
Auf die Essays folgen drei sehr unterschiedliche Gespräche mit verschiedenen Gesprächspartnern: zunächst geht es um Ferruccio Busoni, den Pianisten, Komponisten, Pädagogen, Schriftsteller, Herausgeber; anschließend um den Roman als Gattung, schließlich um das Thema Altern, verbunden mit der Frage: Was bedeutet eigentlich Spätstil?
Es scheint, als würden im Alter physische Schwächen und Gebrechen durch künstlerische Energie kompensiert.
Alfred Brendel erweist sich in diesem lesenswerten Buch als ein gelassener, beschlagener Conférencier, als jemand, der all seine Erfahrungen nicht plakativ ins Schaufenster stellt, sondern sein lesendes Publikum mit seinen An- und Einsichten gewinnen möchte, locken und verlocken möchte.
Wissen und der Umgang mit Wissen können bereichern, ohne erhobenen Zeigefinger. Alle Erfahrung verdient schließlich ein Augenzwinkern.
Wenn es einen Altersstil in der Interpretation gibt, dann ist es ein Kompromiss mit der Arthritis.
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