Neues Album „Golden Years“

Tocotronic: Seit mehr als 30 Jahren zwischen Punk und Poesie

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Autor/in
Giordana Marsilio
Giordana Marsilio

Vom Punk zu poetischem Rock: Tocotronic sind seit drei Jahrzehnten eine der prägendsten deutschsprachigen Bands. Mal laut, mal melancholisch, aber immer auf den Punkt. Nun erscheint ihr neues Album „Golden Years“, das einen scharfen Blick auf die Gegenwart wirft.

Anfang der 1990er-Jahre: Zwischen Trainingsjacken und schmutzigen Gitarrenakkorden wollen vier Musiker aus Hamburg gegen die Welt sein – und doch irgendwie dazugehören. Eine Zerrissenheit, die die Hamburger Band Tocotronic bis heute perfekt verkörpert. Hier treffen Liedermacher auf Punk und Post-Wave-Musik auf Lo-Fi-Sound.

Tocotronic waren in den 90ern junge Rebellen, aber keinesfalls gewöhnliche Punks, die stumpf gegen das System aufbegehrten: Bei der Hamburger Band kam es schon immer auf die Zwischentöne an und in konventionelle Schemata wollen sie bis heute nicht passen.

1996: Der Durchbruch mit dem dritten Album

Die Welt kann mich nicht mehr verstehen

Der Erfolg setzt jedoch nicht sofort ein. Ihr drittes Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ brachte die drei Köpfe hinter Tocotronic, Jan Müller, Arne Zank und Dirk von Lowtzow, 1996 erstmals in die deutschen Charts. Schon hier zeichnete sich der Stil ab, der die Band bis heute begleitet: Texte, die auf den Punkt gebracht sind – in kurzen, prägnanten Sätzen.

Tocotronic schaffen einen Punkstil, der Raum für melancholische Balladen lässt und gleichzeitig auf rockige Gitarrenriffs trifft.

Ablehnung des Nachwuchspreises

Politisch engagiert, reflektiert und gesellschaftskritisch: Das sind Tocotronic damals wie heute. 1996 sorgte die Band für einen kleinen Skandal, als sie den Nachwuchspreis des Musiksenders VIVA, den „Komet“, im Rahmen der Kölner Popkomm entschieden ablehnten.

Die Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ ist nichts, mit dem sich Tocotronic anfreunden können. Ihre Begründung: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben… na ja.“

Politisches Engagement gehört bei Tocotronic dazu

Tocotronic ist wieder ein Trio, nachdem Rick McPhail (Keyboard und Gitarre) sich nach 20 Jahren eine Auszeit aus privaten und gesundheitlichen Gründen erstmal nimmt.  Im Bild spielten sie 2013 im Burgtheater in Wien.
Tocotronic sind wieder ein Trio, nachdem sich Rick McPhail (Keyboard und Gitarre) sich nach 20 Jahren eine Auszeit aus privaten und gesundheitlichen Gründen nimmt.

Doch auch abseits der Bühne sind Tocotronic seit jeher politisch. Sie unterstützten zahlreiche Solidaritätsaktionen, insbesondere gegen Faschismus. Zudem setzen sie sich für den Verein „Pro Asyl“ ein, der sich dem Schutz Geflüchteter widmet.

Auch ihre Texte sind politisch und setzen sich mit dem Weltgeschehen auseinander. Tocotronic wollen dabei nicht belehrend sein, sondern ehrlich – und legen dabei ihre Zweifel gegenüber Gesellschaft und Leben offen.

„Golden Years“ – das neue Album

Am 14. Februar ist das 14te Album von Tocotronic erschienen „Golden Years“. Der Titel ist eine Hommage an David Bowies gleichnamigen Song aus 1975, das er schrieb,  nachdem er gerade als Rockstar zum zweiten Mal gestorben war.
Der Titel „Golden Years“ ist eine Hommage an David Bowies gleichnamigen Song aus 1975. Diese ist jedoch nicht die erste Hommage an den Rockstar. Zwischen 2004 und 2010 veröffentlichten sie drei Alben als „Berlin-Trilogie“ , genau wie David Bowies „Berlin Trilogy“, die der Brite zwischen 1977 und 1979 veröffentlichte.

Tocotronic bleiben sich treu. Auch in ihrem neuen, mittlerweile 14. Album „Golden Years“, das sich auf den gleichnamigen Song von David Bowie aus dem Jahr 1975 bezieht.

Das harte Gitarren-Strumming ist verschwunden, doch der rockige Kern bleibt. Auf dem Album beschäftigen sich Tocotronic mit den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, Tod und Auferstehung. Sie blicken in die Finsternis unserer Gegenwart, wie im Song „Sie wissen, was sie tun“.

Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt, wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt.

Der unverkennbare Schreibstil

Tocotronic sind älter geworden, und die Themen, die die Band beschäftigen, haben sich verändert. Das zeigt sich besonders in „Und dann fange ich von vorne an“, dem letzten Song des Albums. Dirk von Lowtzow singt darin über die Angst vor dem Tod.

Doch Veränderung gehörte bei Tocotronic in den letzten 30 Jahren schon immer dazu, auch musikalisch: Ihre Musik ist anfangs punkig, dann rockiger, später mit Elementen des Liedermacher-Stils und Pop vermischt.

Der Name „Tocotronic“ leitet sich von einer billigen Version einer japanischen Spielkonsole ab: ,„Tricotronic“. Im Bild beim Konzert in der Columbiahalle in Berlin.
Der Name „Tocotronic“ leitet sich von einer billigen Version einer japanischen Spielkonsole ab: ,„Tricotronic“. Im Bild beim Konzert 2018 in der Columbiahalle in Berlin.

Am Ende bleibt immer noch Hoffnung

1999 sprachen Tocotronic in einem Interview über Bands, die sich ausschließlich über Hass und Abgrenzung definieren.

Ein junger Dirk von Lowtzow erklärt damals, dass es in der Musik zwar wichtig sei, sich durch Abgrenzung zu definieren: „Es ist schon ganz wichtig, wenn man Musik macht – es geht immer um ein Differenzgefühl gegenüber anderen Leuten.“ Doch zielloser, wahlloser Hass führe nur zu einer Pose und verliere an Gültigkeit.

Ein Satz, wie ihn Tocotronic und von Lowtzow noch heute sagen könnten. Denn trotz aller Veränderungen bleibt eines unverkennbar: Ihr Schreibstil und ihre Einstellung. Ihre poetischen Texte machen Existenzängste greifbar. Und obwohl ihre Musik oft düster und nachdenklich ist – am Ende bleibt immer Hoffnung.

Talk mit Thees Dirk von Lowtzow: „Man bewegt sich als Songwriter immer zwischen Manie und Depression“

Dirk von Lowtzow, der Kopf von Tocotronic, zählt zu den besten Songtextern Deutschlands. Neben der Musik hat er sich mittlerweile auch als Autor einen Namen gemacht. In „Im Dachsbau“ schrieb er über die prägenden Erinnerungen seiner Jugend und in „Ich tauche auf“ teilte er seine Gedanken und Ängste aus den Pandemie-Jahren 2020/21. „Ich möchte von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen“, heißt es darin.
In diesem Podcast spricht Dirk über seinen besten Freund, der viel zu früh verstorben ist und wirft einen Blick zurück auf 30 Jahre Tocotronic – eine Band, die längst zur festen Größe der deutschen Popkultur geworden ist. Mit ihren poetischen Texten haben sie eine ganze Generation geprägt. Viele ihrer Zeilen wurden zu Kult-Slogans, wie „Ich will Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Keine Angst für niemand“.
Dirk erinnert sich außerdem an den legendären Moment, als Tocotronic auf der Bühne einen Preis ablehnten, und erzählt von den Zweifeln, die ihn schon sein Leben lang begleiten. Aus diesen Gefühlen entstand schließlich einer ihrer bekanntesten Songs: „Im Zweifel für den Zweifel“.
Und dann gibt es noch seinen Ausflug in die Schauspielerei: Dirk hatte einen Kurzauftritt in „Hallo Spencer – Der Film“. Warum das für ihn ein wahr gewordener Kindheitstraum war und wieso er so viele Stofftiere zu Hause hat – auch darüber spricht er in dieser Folge.
Hier geht's zu unserem Podcast-Tipp: https://www.ardaudiothek.de/sendung/telephobia-dieser-eine-anruf/12641441/

Musikmarkt: Buch-Tipp Schmalz und Rebellion – Deutsche Sprache in der Musik

Über deutsche Popmusik und ihr Verhältnis zur eigenen Muttersprache lässt sich nicht nur singen, sondern auch schreiben. Jens Balzer macht es vor mit „Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache“.

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Gespräch Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow über Donaueschingen "Songs sind primitiver als Neue Musik"

Seit fast dreißig Jahren macht Dirk von Lowtzow nun Musik – doch sein Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen ist für den Sänger der Band Tocotronic eine ganz neue Erfahrung: „Ich interessiere mich seit vielen Jahren für Neue Musik und Avantgarde, allerdings nur als Hörender“, sagte von Lowtzow im Gespräch mit SWR2.
In Donaueschingen tritt er gemeinsam mit dem New Yorker Talea Ensemble auf, er rezitiert dort ein selbst verfasstes Gedicht, das durch eine Komposition von Iris ter Schiphorst ergänzt wird. Im Gegensatz zu der Musik, die von Lowtzow sonst mit Tocotronic macht, sei das Stück von Iris ter Schiphorst „ungleich komplexer“, zum Beispiel durch die Notierung. „Es gibt eine Partitur, das gibt es bei Rocksongs in der Regel nicht. Und ich kann auch überhaupt keine Noten lesen, insofern ist es eine vollkommen andere Herangehensweise – man weiß bei klassischer Musik und vor allem bei Neuer Musik nicht, wie ein Stück enden wird.“ Rocksongs hingegen seien primitiver.
Am Samstag wird Dirk von Lowtzow gemeinsam mit dem Talea Ensemble bei den Donaueschinger Musiktagen auftreten, außer der Komposition von Iris ter Schiphorst werden Werke von Mauro Lanza, Alexander Goehr und Joanna Wozny zu hören sein.

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