Anfang der 1990er-Jahre: Zwischen Trainingsjacken und schmutzigen Gitarrenakkorden wollen vier Musiker aus Hamburg gegen die Welt sein – und doch irgendwie dazugehören. Eine Zerrissenheit, die die Hamburger Band Tocotronic bis heute perfekt verkörpert. Hier treffen Liedermacher auf Punk und Post-Wave-Musik auf Lo-Fi-Sound.
Tocotronic waren in den 90ern junge Rebellen, aber keinesfalls gewöhnliche Punks, die stumpf gegen das System aufbegehrten: Bei der Hamburger Band kam es schon immer auf die Zwischentöne an und in konventionelle Schemata wollen sie bis heute nicht passen.
1996: Der Durchbruch mit dem dritten Album
Der Erfolg setzt jedoch nicht sofort ein. Ihr drittes Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ brachte die drei Köpfe hinter Tocotronic, Jan Müller, Arne Zank und Dirk von Lowtzow, 1996 erstmals in die deutschen Charts. Schon hier zeichnete sich der Stil ab, der die Band bis heute begleitet: Texte, die auf den Punkt gebracht sind – in kurzen, prägnanten Sätzen.
Tocotronic schaffen einen Punkstil, der Raum für melancholische Balladen lässt und gleichzeitig auf rockige Gitarrenriffs trifft.
Ablehnung des Nachwuchspreises
Politisch engagiert, reflektiert und gesellschaftskritisch: Das sind Tocotronic damals wie heute. 1996 sorgte die Band für einen kleinen Skandal, als sie den Nachwuchspreis des Musiksenders VIVA, den „Komet“, im Rahmen der Kölner Popkomm entschieden ablehnten.
Die Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ ist nichts, mit dem sich Tocotronic anfreunden können. Ihre Begründung: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein. Und auf dem Weg nach oben… na ja.“
Politisches Engagement gehört bei Tocotronic dazu

Doch auch abseits der Bühne sind Tocotronic seit jeher politisch. Sie unterstützten zahlreiche Solidaritätsaktionen, insbesondere gegen Faschismus. Zudem setzen sie sich für den Verein „Pro Asyl“ ein, der sich dem Schutz Geflüchteter widmet.
Auch ihre Texte sind politisch und setzen sich mit dem Weltgeschehen auseinander. Tocotronic wollen dabei nicht belehrend sein, sondern ehrlich – und legen dabei ihre Zweifel gegenüber Gesellschaft und Leben offen.
„Golden Years“ – das neue Album

Tocotronic bleiben sich treu. Auch in ihrem neuen, mittlerweile 14. Album „Golden Years“, das sich auf den gleichnamigen Song von David Bowie aus dem Jahr 1975 bezieht.
Das harte Gitarren-Strumming ist verschwunden, doch der rockige Kern bleibt. Auf dem Album beschäftigen sich Tocotronic mit den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, Tod und Auferstehung. Sie blicken in die Finsternis unserer Gegenwart, wie im Song „Sie wissen, was sie tun“.
Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt, wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt.
Der unverkennbare Schreibstil
Tocotronic sind älter geworden, und die Themen, die die Band beschäftigen, haben sich verändert. Das zeigt sich besonders in „Und dann fange ich von vorne an“, dem letzten Song des Albums. Dirk von Lowtzow singt darin über die Angst vor dem Tod.
Doch Veränderung gehörte bei Tocotronic in den letzten 30 Jahren schon immer dazu, auch musikalisch: Ihre Musik ist anfangs punkig, dann rockiger, später mit Elementen des Liedermacher-Stils und Pop vermischt.

Am Ende bleibt immer noch Hoffnung
1999 sprachen Tocotronic in einem Interview über Bands, die sich ausschließlich über Hass und Abgrenzung definieren.
Ein junger Dirk von Lowtzow erklärt damals, dass es in der Musik zwar wichtig sei, sich durch Abgrenzung zu definieren: „Es ist schon ganz wichtig, wenn man Musik macht – es geht immer um ein Differenzgefühl gegenüber anderen Leuten.“ Doch zielloser, wahlloser Hass führe nur zu einer Pose und verliere an Gültigkeit.
Ein Satz, wie ihn Tocotronic und von Lowtzow noch heute sagen könnten. Denn trotz aller Veränderungen bleibt eines unverkennbar: Ihr Schreibstil und ihre Einstellung. Ihre poetischen Texte machen Existenzängste greifbar. Und obwohl ihre Musik oft düster und nachdenklich ist – am Ende bleibt immer Hoffnung.