Buchkritik

Timothy Snyder – Über Freiheit

Stand
Autor/in
Günter Kaindlstorfer

Timothy Snyder, einer der prominentesten Intellektuellen der USA, entwickelt in seinem neuen Buch eine Philosophie der Freiheit. Ihm zufolge muss Freiheit mehr sein als die Abwesenheit von Zwang.

„Freie Fahrt für freie Bürger!“ Mit diesem Slogan machte der ADAC im Februar 1974 gegen ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen mobil. „Freie Fahrt für freie Bürger!“ Das ist nicht die Art von Freiheit, die Timothy Snyder meint. Der Yale-Historiker argumentiert in seinem Buch gegen ein allzu primitives Verständnis von Freiheit, das Freiheit vor allem als Recht versteht, von Einschränkungen verschont zu bleiben.

Wer sich weigert, bestimmte Limitierungen für sich gelten zu lassen, ist deshalb noch lange nicht frei, argumentiert Snyder. Der Historiker unterscheidet, wie einst der Philosoph Isaiah Berlin, „negative“ und „positive“ Freiheit voneinander: 

Negative Freiheit ist die Idee, dass ICH gegen die Welt antrete. Dass das einzige Problem die Welt ist. Dass es da draußen eine Barriere gibt, die ich überwinden oder niederreißen muss. Negative Freiheit ist eine „Freiheit VON“. Positive Freiheit, wie ich sie verstehe, ist eine „Freiheit ZU.“ 

Die Freiheit der Wahl 

Wirklich frei, so Timothy Snyder, ist man erst, wenn man zwischen verschiedenen Optionen wählen kann – guten Optionen: 

And I deeply believe that it is the ability to choose among the good things. There are good things in the world, when we're in a condition or a state to choose among them, then we're free. 

In den USA, so Timothy Snyder, hingen viele Menschen einem im Großen und Ganzen eher schlichten Verständnis von Freiheit an.

Von libertärer und rechtspopulistischer Seite wird Freiheit ja vor allem als Freiheit definiert, seine Interessen unbehelligt von staatlichen oder sonstigen Reglementierungen durchzusetzen, ob es nun ums Waffentragen geht oder um die Freiheit, für die Wohlfahrt anderer, möglicherweise unterprivilegierter Menschen nicht aufkommen zu müssen. Jeder ist, diesem Verständnis von Freiheit nach, sich selbst der Nächste. 

Freiheit muss organisiert werden 

Dagegen könne sich „positive Freiheit“ nur in der empathischen, lebendigen Interaktion mit anderen verwirklichen, postuliert Timothy Snyder. Anknüpfend an Persönlichkeiten wie Vaclav Havel, Edith Stein, Simone Weil und Leszek Kolakowski – historische Bezugsgrößen, die ihm wichtig sind –, plädiert der Yale-Historiker dafür, Freiheit in demokratischer Übereinkunft gesellschaftlich zu organisieren. 

Wenn Sie ein negatives Freiheitsverständnis haben, werden Sie davon überzeugt sein, dass die Regierung ausschließlich Ihr Gegner ist. Sie werden die Regierung verkleinern, wenn Sie die Macht dazu haben, und die Regierung wird am Ende nicht mehr in der Lage sein, genau die Dinge zu tun, die sie tun müsste, um die Freiheit der Menschen zu gewährleisten.

Pragmatischer Optimismus 

Timothy Snyder hat ein tiefschürfendes und in vielerlei Hinsicht anregendes Buch geschrieben. Dass der Autor auf grämliches Moralisieren verzichtet und der „positiven Freiheit“, für die er plädiert, mit pragmatischem Optimismus zum Durchbruch verhelfen möchte, macht diesen Band – trotz des anspruchsvollen Themas – streckenweise zu einem vergnüglichen Leseerlebnis.

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