Mann, oh Mann

Thomas Mann neu entdecken: Neuerscheinungen rund um das Mann-Jubiläum

Stand

Von Autor/in Frank Hertweck, Nina Wolf, Theresa Hübner, Christoph Schröder, Alexander Wasner

Zum 150. Thomas-Mann-Jubiläum gibt es allerhand Neues rund um den Autor der „Buddenbrooks“ und des „Zauberbergs“: literarische Neuinterpretationen, ein Hörbuch – und Thomas Mann als Spielzeug.

Vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren. Das Werk des Jahrhundertschriftstellers, Nobelpreisträgers und Großbürgers ist längst Weltliteratur – und bleibt dennoch überraschend aktuell.

Aus diesem Anlass stellen wir Neuerscheinungen vor, die sich mit Mann beschäftigen: Romane, die sein Erbe weiterdenken oder neu interpretieren. Ein Hörbuch, ungekürzt eingelesen. Und eine kleine Kuriosität, die ihn in die Spielzeugwelt überführt.

Unsere Empfehlungen zum Jubiläum zeigen: Thomas Mann ist weit mehr als Pflichtlektüre – er inspiriert, irritiert und bleibt Gegenstand lebendiger Auseinandersetzung.

Thomas Mann am Schreibtisch
Thomas Mann, wie er sich am liebsten sah: Als Dichterfürst, der fernab der Welt mit den Worten ringt.

Thomas Mann, der Außenseiter

„136. Jahrgang“ heißt es bescheiden-stolz auf dem jüngsten Heft der Neuen Rundschau. Es ist Thomas Mann zum 150. Geburtstag gewidmet. Mann selbst hat noch in der Neuen Rundschau, der Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags, veröffentlicht.

Was wäre zu Thomas Mann denn noch zu sagen? Die Neue Rundschau erinnert an den Migrationshintergrund von Thomas Mann. Daran, dass seine für ihn wichtige Mutter aus Brasilien kam, daran, dass Thomas Mann unter einer scheinbar gefestigten bürgerlichen Fassade ein Zerrissener war. Ein Außenseiter, nicht nur aufgrund seiner Herkunft, sondern auch, weil er seine Homosexualität zeitlebens unterdrückt hat.

Thomas Mann also gleichsam ein diverser Autor im Ringen um Identitä. Es ist eine Spannung, die darum in seinem Werk nie Gemütlichkeit aufkommen lässt, sondern mit Spott und Ironie genau die Schmerzpunkte berührt, die ihm am nächsten waren.

Der Zauberberg (TV-Mehrteiler, 1982)
Thomas Mann als TV-Mehrteiler: Hans W. Geißendörfers Zauberberg-Adaption von 1982 mit Christoph Eichhorn als Hans Castorp und Margot Hielscher als Frau Stöhr.

Dass Thomas Mann auch selbst als Rollenmodell einer um Form ringenden Adoleszenz taugen kann, erzählt der Schriftsteller und bekennende Mann-Fan Eckhart Nickel.

Plötzlich ist Thomas Mann nicht nur ein nachahmenswerter Dichter, sondern eine Gesamterscheinung. Er wird durch Verfilmungen gespiegelt, etwa den „Zauberberg“ von Hans W. Geißendörfer, der 1984 im ZDF lief, bietet Dresscodes, aber auch Tics und Allüren an, um sich von denen abzugrenzen, die sich (wie ich) langhaarig und in zerrissenen Jeans auf Friedens- und Ökodemos herumtrieben.

Also Form gegen Formlosigkeit, würde man aus heutiger Sicht sagen. Aber die Form von Thomas Mann ist nur darum so aufregend, weil er sie seinem inneren Chaos abringt.

Kein Tod in Venedig

Was passiert, wenn eine dänische Autorin Thomas Manns „Tod in Venedig“ durch den Meta-Fleischwolf dreht, die Erzählung in der Gegenwart verankert und eine Portion nordischer Ironie dazu gibt? Christina Hesselholdts „Venezianisches Idyll“ wagt genau dieses Experiment.

Aus Gustav Aschenbach wird Gustava, eine erschöpfte Psychiaterin Mitte fünfzig. Sie will im norwegischen Tromsø ihrem Leben ein Ende setzen. Nach einem Zusammenbruch (bei dem ein ausgestopfter Eisbär eine Rolle spielt) entscheidet sie sich für das Leben.

Statt Tod folgt Venedig. Dort sucht sie Erholung, Abstand, vielleicht sogar einen Neuanfang. Ihr Bruder Mikael, ein exzentrischer Einzelgänger, findet ihren Abschiedsbrief und reist ihr hinterher.

Touristen-Silhouetten in Venedig vor dem Campanile des Markusdoms und dem Dogenpalast
Erholung statt Tod: In Christina Hesselholdts „Venezianisches Idyll“ wirkt die Lagunenstadt nicht so bedrohlich wie in Thomas Manns Novelle.

Hesselholdt baut ihre Geschichte als Mosaik: wechselnde Perspektiven, eine unzuverlässige Erzählstimme, und immer wieder Referenzen – an Thomas Mann, an Casanova, Visconti, Nietzsche.

Was tragisch beginnt wird zu einer scharfsinnigen Komödie. „Venezianisches Idyll“ ist keine Nacherzählung, sondern eine Umdeutung und eine Hommage – glänzend übersetzt von Ursel Allenstein.

„Über Venedig zu schreiben, ist so, als würde man ein Glas Wasser ins Meer kippen", sagt der Erzähler in Hesselholdts Roman an einer Stelle. Dieser Roman behandelt weder Venedig noch Thomas Mann museal, sondern fährt seinen Vorbildern liebevoll in die Parade – mit Witz, Tiefe und einem klaren Blick auf das moderne Scheitern. Ein Abgesang auf das Überleben.

Thomas Mann zum Anhören

Was könnte man alles in 38 Stunden und 36 Minuten tun?

Zum Beispiel zweimal mit dem Auto von Hamburg nach Davos und wieder zurück fahren. Oder mit dem Flugzeug nach Neuseeland fliegen. Oder einen Monat lang das Geschirr täglich mit der Hand spülen und dazu Thomas Sarbachers „Zauberberg“-Lesung anhören.

Wir kennen den „Zauberberg“ in der umscheichelnden Sprechstimme des großen Mann-Interpreten Gert Westphal. Thomas Sarbacher aber hat Thomas Manns Roman nun erstmals ungekürzt eingesprochen. 38 Stunden, 36 Minuten, 20 Stunden länger als die Westphal-Lesung. Einer Stimme über einen langen Zeitraum zuzuhören, ist auch Gewöhnungssache. Einen Versuch wäre es zumindest wert.

Für die, die am Berg gescheitert sind...

Schon zweimal habe sie versucht, Thomas Manns „Zauberberg" zu lesen, meint Theresa Hübner. Nie hat sie durchgehalten. Der dicke Wälzer mit seinen scheinbar endlosen detaillierten Beschreibungen war ihr einfach zu langatmig – Weltliteratur hin oder her.

Zum Glück gibt es einen kuriosen, literarischen Brückenschlag in die Gegenwart: „Zauberberg 2" von Heinz Strunk. Ja, genau – der Heinz Strunk, der sonst für tragik-komische Alkoholiker-Romane bekannt ist.

Und doch funktioniert es. Denn Strunk nimmt nicht einfach das Original von 1924 auseinander, sondern überträgt dessen Grundstimmung in unsere Zeit. Statt Davoser Höhenluft: mecklenburgische Provinz. Statt Thomas Manns Hans Castorp: Jonas Heidbrink – ein depressiver Start-up Millionär ohne Lebenssinn, der sich freiwillig in ein mecklenburgisches Sanatorium einweist.

Sanatorium in Bad-Sülze im Recknitztal
Zauberberg in Mecklenburg-Vorpommern? Das Sanatorium in Bad-Sülze im Recknitztal beherbergt heute ein Salz-Museum.

Dort trifft er auf andere seelisch Versehrte, erlebt Therapiesitzungen und Albträume – und wird, wie schon Castorp, zum Beobachter einer Welt, in der die Zeit stillsteht. Strunks Version ist düster, schräg und manchmal sehr komisch.

Wer also an 1.000 Seiten Thomas Mann gescheitert ist, aber dennoch ein Gefühl für die Fragen des Original-„Zauberbergs" bekommen will – denen nach Krankheit, Zeit, Tod und Sinn – , der findet in „Zauberberg 2" eine überraschend respektvolle und eigenständige Alternative.

Und wer weiß – vielleicht ist das ja der Startschuss, sich doch nochmal an den Klassiker zu wagen. Wer’s durchhält …

Mann als Männchen

Und wer jetzt wirklich keine Lust mehr hat, Thomas Mann zu lesen, für den kam jetzt gerade Thomas Mann als Playmobil-Figur heraus, veröffentlicht mit dem S. Fischer Verlag und dem Buddenbrooks Haus in Lübeck.

Die Figur hat vier Teile: Es ist ein Männchen mit einem ockerfarbenem Anzug mit Hut. Das hat noch einen Gehstock und ein Buch, was er in der Hand hält: die „Buddenbrooks“.

Thomas Mann als Playmobilfigur
Thomas Mann als Playmobilfigur

Mit dem Gehstock sieht Thomas Mann etwas alt aus. Aber in Wirklichkeit war er zum Erscheinen der „Buddenbrooks“-Bücher erst 25 Jahre alt. 1929 hat er dann, nun 54-jährig, auch den Literaturnobelpreis dafür bekommen.

Das Ganze ist erlaubt für Kinder ab 4 Jahren. Ob die schon Thomas Mann lesen wollen? Wenn Eltern die Kinder früh zu Thomas Mann bringen wollen, dann mit dieser Figur. So werden sie vielleicht mal später „Zauberberg“ lesen!

Die „Buddenbooks" 2?

SWR Kultur Redakteur Alexander Wasner erinnert sich noch an ein paar sehr schöne Tage, als er die „Buddenbrooks“ las.

Es war eskapistische Lektüre, es ging um den Abstieg einer reichen Familie in einer fernen Zeit in Norddeutschland – mit seinem „Bessere-Leute-Setting“ hat Thomas Mann eine Familiengeschichte geschrieben, aus der er mitnahm, dass es auch reiche Menschen nicht leicht haben.

Heute könnte das nicht mal Martin Mosebach noch so sozial blind erzählen. Und jetzt kam im vergangenen Jahr Inger-Maria Mahlke, „Unsereins“ – schon vom Titel ist das zugewandter.

Mahlke erzählt die Welt, in der die Buddenbrooks leben, aus der Perspektive derer, die nicht die Buddenbrooks sind: aus der Sicht des Ratsdieners, der einmal im Monat zur Prostituierten geht, des Dienstmädchens, das langsam begreift, wie sozial abgehängt sie ist, und aus der Sicht der Lindhorsts, in vielem ganz ähnlich zu den Buddenbrooks, aber jüdisch.

Sie halten sich für assimiliert, bis ein Schlüsselroman, eben „Buddenbrooks“, ihnen vor Augen hält, dass sie nie dazugehört haben. „Unsereins“ kann man auch dann gut lesen, wenn man von den Buddenbrooks nur noch den fernen Schatten der jugendlichen Lektüre oder der Filme vor Augen hat.

Thomas Mann könnte heute aus dem Roman von Mahlke mitnehmen, dass die Verfallsgeschichte der Buddenbrooks in Wirklichkeit auch der zaghafte (und dann vom Faschismus brutal unterbrochene) Beginn des bürgerlich-liberalen Zeitalters war.

Buchkritik Thomas Mann & Katia Mann „Liebes Fräulein Herz“ - Briefwechsel mit Ida Herz 1924 - 1955

Ida Herz über Thomas Mann: „Er war mein bester Freund“. Allerdings war es eine ungleiche Freundschaft, die sie mit Thomas Mann verband. Geprägt von euphorischer Hingabe und bitterer Enttäuschung.

SWR Kultur am Abend SWR Kultur

Tilmann Lahmes „Thomas Mann. Ein Leben" Galten Thomas Manns heimliche Träume und Phantasien Männern?

Noch eine Biografie über Thomas Mann! Und wie jede Biografie muss auch diese einen Schritt weiter gehen als die vorherigen.
Rezension von Eberhard Falcke

SWR Kultur am Abend SWR Kultur

Buchkritik Thomas Mann – Deutsche Hörer!

Genau zur richtigen Zeit, da sich der Faschismus auf der ganzen Welt wieder ausbreitet, werden Thomas Manns Rundfunkansprachen in „Deutsche Hörer!“ neu veröffentlicht.
Rezension von Ulrich Rüdenauer

SWR Kultur am Abend SWR Kultur

Hörspiele, Sachbücher, Diskussion 150 Jahre Thomas Mann: Das Beste aus Leben und Werk in SWR Kultur

Zum 150. Geburtstag von Thomas Mann am 6. Juni präsentiert SWR Kultur Hörspiele, historische Reden im O-Ton, neue Biografien und die Reihe „Thomas Mann und die Musik“.

SWR Kultur am Morgen SWR Kultur

Archivradio Thomas Mann gegen die Nazis

Im Krieg war der Schriftsteller politischer Aktivist. Nazis und Antisemitismus waren ihm zuwider. In seinem Exil in den USA produzierte er Ansprachen, um übers Radio die deutschen Hörer über die Nazi-Verbrechen aufzuklären.

Das Wissen am Feiertag SWR Kultur

Forum Betrachtung eines Politischen – Wer war Thomas Mann?

Michael Köhler diskutiert mit
PD Dr. Rolf Füllmann, Literaturwissenschaftler Köln
Prof. Dr. Kai Sina, Literaturwissenschaftler, Uni Münster
Prof. Dr. Julia Schöll, Literaturwissenschaftlerin, TU Braunschweig

Forum SWR Kultur

150 Jahre Thomas Mann Kein unkritischer Wagner-Jünger: Thomas Mann und die Musik

Er verehrte Richard Wagner und verabscheute dessen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Die Musik war eine wichtige Begleiterin für Thomas Mann, auch in seinen Romanen.

Musikstunde SWR Kultur

Forum Zauberbergzeit – Ist Thomas Manns Jahrhundertroman visionär?

Michael Köhler diskutiert mit
Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer, Germanist, München/Heidelberg
Dr. Caren Heuer, Direktorin Buddenbrookhaus, Lübeck
Prof. Dr. Frido Mann, Theologe, Psychologe, Autor, München

Forum SWR Kultur

Essay Hans Castorp, Herr Mann & ich – Eine Seelenzergliederung

Mit 30 liest Oliver Martin den “Zauberberg” und verliebt sich in Hans Castorp. Sieben Jahre später erweckt die erneute Lektüre die Gespenster seiner eigenen Vergangenheit zum Leben.

Essay von Oliver Martin

Essay SWR Kultur

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Frank Hertweck
Nina Wolf
Theresa Hübner
Christoph Schröder
Alexander Wasner