- Neue Rundschau 2025/1 – Thomas Manns 150. Geburtstag
- Christina Hesselholdt: Venezianisches Idyll
- Thomas Mann – Der Zauberberg als Hörbuch
- Heinz Strunk – Zauberberg 2
- Thomas Mann Playmobil
- Inger-Maria Mahlke – Unsereins
Vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren. Das Werk des Jahrhundertschriftstellers, Nobelpreisträgers und Großbürgers ist längst Weltliteratur – und bleibt dennoch überraschend aktuell.
Aus diesem Anlass stellen wir Neuerscheinungen vor, die sich mit Mann beschäftigen: Romane, die sein Erbe weiterdenken oder neu interpretieren. Ein Hörbuch, ungekürzt eingelesen. Und eine kleine Kuriosität, die ihn in die Spielzeugwelt überführt.
Unsere Empfehlungen zum Jubiläum zeigen: Thomas Mann ist weit mehr als Pflichtlektüre – er inspiriert, irritiert und bleibt Gegenstand lebendiger Auseinandersetzung.

Thomas Mann, der Außenseiter
„136. Jahrgang“ heißt es bescheiden-stolz auf dem jüngsten Heft der Neuen Rundschau. Es ist Thomas Mann zum 150. Geburtstag gewidmet. Mann selbst hat noch in der Neuen Rundschau, der Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags, veröffentlicht.
Was wäre zu Thomas Mann denn noch zu sagen? Die Neue Rundschau erinnert an den Migrationshintergrund von Thomas Mann. Daran, dass seine für ihn wichtige Mutter aus Brasilien kam, daran, dass Thomas Mann unter einer scheinbar gefestigten bürgerlichen Fassade ein Zerrissener war. Ein Außenseiter, nicht nur aufgrund seiner Herkunft, sondern auch, weil er seine Homosexualität zeitlebens unterdrückt hat.
Thomas Mann also gleichsam ein diverser Autor im Ringen um Identitä. Es ist eine Spannung, die darum in seinem Werk nie Gemütlichkeit aufkommen lässt, sondern mit Spott und Ironie genau die Schmerzpunkte berührt, die ihm am nächsten waren.

Dass Thomas Mann auch selbst als Rollenmodell einer um Form ringenden Adoleszenz taugen kann, erzählt der Schriftsteller und bekennende Mann-Fan Eckhart Nickel.
Plötzlich ist Thomas Mann nicht nur ein nachahmenswerter Dichter, sondern eine Gesamterscheinung. Er wird durch Verfilmungen gespiegelt, etwa den „Zauberberg“ von Hans W. Geißendörfer, der 1984 im ZDF lief, bietet Dresscodes, aber auch Tics und Allüren an, um sich von denen abzugrenzen, die sich (wie ich) langhaarig und in zerrissenen Jeans auf Friedens- und Ökodemos herumtrieben.
Also Form gegen Formlosigkeit, würde man aus heutiger Sicht sagen. Aber die Form von Thomas Mann ist nur darum so aufregend, weil er sie seinem inneren Chaos abringt.
Kein Tod in Venedig
Was passiert, wenn eine dänische Autorin Thomas Manns „Tod in Venedig“ durch den Meta-Fleischwolf dreht, die Erzählung in der Gegenwart verankert und eine Portion nordischer Ironie dazu gibt? Christina Hesselholdts „Venezianisches Idyll“ wagt genau dieses Experiment.
Aus Gustav Aschenbach wird Gustava, eine erschöpfte Psychiaterin Mitte fünfzig. Sie will im norwegischen Tromsø ihrem Leben ein Ende setzen. Nach einem Zusammenbruch (bei dem ein ausgestopfter Eisbär eine Rolle spielt) entscheidet sie sich für das Leben.
Statt Tod folgt Venedig. Dort sucht sie Erholung, Abstand, vielleicht sogar einen Neuanfang. Ihr Bruder Mikael, ein exzentrischer Einzelgänger, findet ihren Abschiedsbrief und reist ihr hinterher.

Hesselholdt baut ihre Geschichte als Mosaik: wechselnde Perspektiven, eine unzuverlässige Erzählstimme, und immer wieder Referenzen – an Thomas Mann, an Casanova, Visconti, Nietzsche.
Was tragisch beginnt wird zu einer scharfsinnigen Komödie. „Venezianisches Idyll“ ist keine Nacherzählung, sondern eine Umdeutung und eine Hommage – glänzend übersetzt von Ursel Allenstein.
„Über Venedig zu schreiben, ist so, als würde man ein Glas Wasser ins Meer kippen", sagt der Erzähler in Hesselholdts Roman an einer Stelle. Dieser Roman behandelt weder Venedig noch Thomas Mann museal, sondern fährt seinen Vorbildern liebevoll in die Parade – mit Witz, Tiefe und einem klaren Blick auf das moderne Scheitern. Ein Abgesang auf das Überleben.
Thomas Mann zum Anhören
Was könnte man alles in 38 Stunden und 36 Minuten tun?
Zum Beispiel zweimal mit dem Auto von Hamburg nach Davos und wieder zurück fahren. Oder mit dem Flugzeug nach Neuseeland fliegen. Oder einen Monat lang das Geschirr täglich mit der Hand spülen und dazu Thomas Sarbachers „Zauberberg“-Lesung anhören.
Wir kennen den „Zauberberg“ in der umscheichelnden Sprechstimme des großen Mann-Interpreten Gert Westphal. Thomas Sarbacher aber hat Thomas Manns Roman nun erstmals ungekürzt eingesprochen. 38 Stunden, 36 Minuten, 20 Stunden länger als die Westphal-Lesung. Einer Stimme über einen langen Zeitraum zuzuhören, ist auch Gewöhnungssache. Einen Versuch wäre es zumindest wert.
"Königliche Hoheit" von Thomas Mann in der ARD Audiothek
Für die, die am Berg gescheitert sind...
Schon zweimal habe sie versucht, Thomas Manns „Zauberberg" zu lesen, meint Theresa Hübner. Nie hat sie durchgehalten. Der dicke Wälzer mit seinen scheinbar endlosen detaillierten Beschreibungen war ihr einfach zu langatmig – Weltliteratur hin oder her.
Zum Glück gibt es einen kuriosen, literarischen Brückenschlag in die Gegenwart: „Zauberberg 2" von Heinz Strunk. Ja, genau – der Heinz Strunk, der sonst für tragik-komische Alkoholiker-Romane bekannt ist.
Und doch funktioniert es. Denn Strunk nimmt nicht einfach das Original von 1924 auseinander, sondern überträgt dessen Grundstimmung in unsere Zeit. Statt Davoser Höhenluft: mecklenburgische Provinz. Statt Thomas Manns Hans Castorp: Jonas Heidbrink – ein depressiver Start-up Millionär ohne Lebenssinn, der sich freiwillig in ein mecklenburgisches Sanatorium einweist.

Dort trifft er auf andere seelisch Versehrte, erlebt Therapiesitzungen und Albträume – und wird, wie schon Castorp, zum Beobachter einer Welt, in der die Zeit stillsteht. Strunks Version ist düster, schräg und manchmal sehr komisch.
Wer also an 1.000 Seiten Thomas Mann gescheitert ist, aber dennoch ein Gefühl für die Fragen des Original-„Zauberbergs" bekommen will – denen nach Krankheit, Zeit, Tod und Sinn – , der findet in „Zauberberg 2" eine überraschend respektvolle und eigenständige Alternative.
Und wer weiß – vielleicht ist das ja der Startschuss, sich doch nochmal an den Klassiker zu wagen. Wer’s durchhält …
Mann als Männchen
Und wer jetzt wirklich keine Lust mehr hat, Thomas Mann zu lesen, für den kam jetzt gerade Thomas Mann als Playmobil-Figur heraus, veröffentlicht mit dem S. Fischer Verlag und dem Buddenbrooks Haus in Lübeck.
Die Figur hat vier Teile: Es ist ein Männchen mit einem ockerfarbenem Anzug mit Hut. Das hat noch einen Gehstock und ein Buch, was er in der Hand hält: die „Buddenbrooks“.

Mit dem Gehstock sieht Thomas Mann etwas alt aus. Aber in Wirklichkeit war er zum Erscheinen der „Buddenbrooks“-Bücher erst 25 Jahre alt. 1929 hat er dann, nun 54-jährig, auch den Literaturnobelpreis dafür bekommen.
Das Ganze ist erlaubt für Kinder ab 4 Jahren. Ob die schon Thomas Mann lesen wollen? Wenn Eltern die Kinder früh zu Thomas Mann bringen wollen, dann mit dieser Figur. So werden sie vielleicht mal später „Zauberberg“ lesen!
Die „Buddenbooks" 2?
SWR Kultur Redakteur Alexander Wasner erinnert sich noch an ein paar sehr schöne Tage, als er die „Buddenbrooks“ las.
Es war eskapistische Lektüre, es ging um den Abstieg einer reichen Familie in einer fernen Zeit in Norddeutschland – mit seinem „Bessere-Leute-Setting“ hat Thomas Mann eine Familiengeschichte geschrieben, aus der er mitnahm, dass es auch reiche Menschen nicht leicht haben.
Heute könnte das nicht mal Martin Mosebach noch so sozial blind erzählen. Und jetzt kam im vergangenen Jahr Inger-Maria Mahlke, „Unsereins“ – schon vom Titel ist das zugewandter.
Inger-Maria Mahlke – Unsereins
Mahlke erzählt die Welt, in der die Buddenbrooks leben, aus der Perspektive derer, die nicht die Buddenbrooks sind: aus der Sicht des Ratsdieners, der einmal im Monat zur Prostituierten geht, des Dienstmädchens, das langsam begreift, wie sozial abgehängt sie ist, und aus der Sicht der Lindhorsts, in vielem ganz ähnlich zu den Buddenbrooks, aber jüdisch.
Sie halten sich für assimiliert, bis ein Schlüsselroman, eben „Buddenbrooks“, ihnen vor Augen hält, dass sie nie dazugehört haben. „Unsereins“ kann man auch dann gut lesen, wenn man von den Buddenbrooks nur noch den fernen Schatten der jugendlichen Lektüre oder der Filme vor Augen hat.
Thomas Mann könnte heute aus dem Roman von Mahlke mitnehmen, dass die Verfallsgeschichte der Buddenbrooks in Wirklichkeit auch der zaghafte (und dann vom Faschismus brutal unterbrochene) Beginn des bürgerlich-liberalen Zeitalters war.