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Stefan aus dem Siepen – Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Alles will gelernt sein - auch das schlechte Schreiben. Stefan aus dem Siepen gibt eine liebevolle Anleitung dazu in seinem Essay über die „Kunst des stilistischen Missgriffs". Gut gelaunt schult er unseren Blick auf das Essentielle der Literatur: Sprache und Stil.

Ratgeber guten sprachlichen Stils haben heute etwa was Aus-der-Zeit-Gefallenes, Loriothaftes: mit Haltung Scheitern an der Formlosigkeit des modernen Lebens. Deshalb macht es Stefan aus dem Siepen umgekehrt und betreibt negative Pädagogik.

Schlecht schreiben kann allerdings jeder. Etwas Besonderes aber wird der sprachliche Missgriff, wenn er sich Schreibenden mit Stil-Kompetenz verdankt, kurz: wenn die Meister danebenhauen. Siepen bietet ein ganzes Treibhaus solcher edlen Blüten, gut sortiert und kommentiert in neunzehn Kategorien.

Auch große Dichter produzieren manchmal Stilblüten

Heinrich von Kleist ist dabei, der im „Michael Kohlhaas“ doch tatsächlich einen Regen beschreibt, „der vom Himmel fällt“ – ja, woher sonst? Uwe Johnson, der eine unselige Neigung zu nachschleppenden Relativsätzen hat. Rilke, der in einem Gedicht an einer Sexschilderung verunglückt. Und sogar Jesus Christus, der als Parabelerzähler eine unpassende Metapher gebraucht, wenn er seine Wiederkehr mit dem Einbruch eines Diebes in der Nacht vergleicht.

Heinrich Böll verwendet ständig Worthülsen wie „ziemlich“ „richtig“ oder „sozusagen“. Aber Siepen sieht auch, dass diese Füllwörter seiner Prosa den Rhythmus sichern und den Anschein gesprochener Sprache geben. Ähnlich ist es mit dem grammatischen Patzer in einem der berühmtesten Goethe-Gedichte: „Was soll all der Schmerz und Lust? – / Süßer Friede, / komm, ach komm in meine Brust.“ DER Lust? Das ist schief. Aber „Was sollen all der Schmerz und all die Lust“ würde als lyrischer Stoßseufzer zu umständlich klingen.

Ein Musterbeispiel für nachlässigen Stil ist Dostojewski, weil er seine Werke unter Geldnot und großem Zeitdruck als Fortsetzungsromane schrieb. Aber gerade durch diese Gehetztheit bekommen sie Tempo und Dynamik. Siepen sammelt also nicht bloß schadenfroh scheinbar verunglückte Sätze, er sieht auch die Kontexte und Nebenwirkungen.

Dunkles Geraune wird gern mit Tiefgang verwechselt

Eine seit der Antike gerühmte stilistische Tugend ist die Klarheit und Schlichtheit. Stefan aus dem Siepen aber gibt zu bedenken, dass, wer sich verständlich ausdrückt, seine Gedanken der Kontrolle aussetzt und vielleicht banal gefunden wird. Das Dunkle dagegen wird für tiefgründig gehalten; das Gegenteil lässt sich ja nicht beweisen. Und man kennt das: Je länger man sich mit dem Verständnis eines schwierigen Textes abmüht, desto mehr ist man auch geneigt, das als „lohnend“ zu empfinden – der Hegel- oder Lacan-Effekt. Clevere Autoren bemühen sich deshalb um eine gewisse Verrätselung und Verdunkelung.

Eine Lehre dieses Buches besteht darin, dass es zwar Tendenzen guten Stils gibt, aber dass es letztlich auf den Zusammenhang ankommt. Wortwiederholungen können ein Fehler sein – aber auch ein suggestives stilistisches Mittel, so bei Stifter oder Thomas Bernhard. Adjektive sind oft überflüssig, aber ein Thomas Mann erzielt damit feinste Nuancen. Nichts weckt weniger Vertrauen als ständige Superlative, aber gerade dies machen sich gewitzte Autoren zunutze. Das Beispiel dafür ist eine wunderbare Passage aus einer Kritik von Lessing, in der er eine Schauspielerin mit Superlativen dermaßen überhäuft, dass die einzige kritische Bemerkung mittendrin umso mehr absticht und im Gedächtnis bleibt.

Unterhaltsames Bildungserlebnis - mit Stil

Augenöffnend ist dagegen das Kapitel über die Kunst der verheißungsvollen ersten Seite. Siepen unterscheidet reißerische, weitschweifige, gönnerhafte, witzelnde, prahlerische oder auch tiefstapelnde, sich gleichsam entschuldigende Romananfänge und hat für alle Varianten triftige Beispiele parat. Dieses Buch ist ein gut gelauntes, unterhaltsames Bildungserlebnis. Stefan aus dem Siepen hat es riskiert: klar, verständlich und gewitzt zu schreiben. 

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Autor/in
Wolfgang Schneider