In einem der Gründungstexte der Psychoanalyse „Bruchstücke einer Hysterie-Analyse“ aus dem Jahr 1905 sind die Rollen zwischen Mann und Frau, wenn es ums Putzen geht, klar verteilt. Sigmund Freud, der gerade eine neue Wissenschaft erfindet, erfindet zugleich ein Wort. Es heißt „Hausfrauenpsychose“.
Putzzwang als weibliches Symptom?
Die Beschreibung gibt keine Rätsel auf: „Ohne Verständnis für die regen Interessen ihrer Kinder, war sie den ganzen Tag mit Reinmachen und Reinhalten der Wohnung, Möbel und Gerätschaften beschäftigt, welches Gebrauch und Genuß derselben fast unmöglich machte“.

Vom Putzen unterscheidet sich der Putzzwang also ganz einfach dadurch, dass die Dinge gar nicht mehr durch die Benutzung dreckig werden können, weil sie sich permanent im Stadium des Geputztwerdens befinden. Das ist schlau, aber auch erschöpfend. Freud selbst kennt nur Frauen, die an diesem Symptom leiden.
Strategisches Saubermachen: Putzen als Mittel zur Macht bei Canetti
Aber die Literatur weiß Beispiele, bei denen ganz anders aufs Putzen geschaut wird. 1936 erschien der Roman „Die Blendung“ des späteren Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti. Eigentlich wollte der in mehreren Büchern ein ganzes Bestiarium menschlicher Typen und Abgründe entfalten, aber am Ende blieb es nur bei diesem einen Roman. Canetti ist ein Autor, der seine Helden nicht liebt, darum erzählt keiner kälter als er.

Im Zentrum der „Blendung“ steht der größte Sinologe seiner Zeit, Besitzer einer gewaltigen Bibliothek und eines noch gewaltigeren Gedächtnisses. Er liebt Bücher, sie sind für ihn die wahren Lebewesen, das gedruckte Wort steht immer über dem Menschen. Kien ist ein Monster wie fast alle Figuren in Canettis Roman.
Aber dieser Biblio-Maniac bleibt nicht alleine. Er setzt eine Annonce auf: „Gelehrter mit Bibliothek von ungewöhnlicher Größe sucht verantwortungsbewusste Haushälterin. Nur charaktervollste Persönlichkeiten wollen sich melden. Gesindel fliegt die Treppe hinunter. Gehalt Nebensache.“
Klingt gut! Darum macht sich Therese Krumbholz sogleich auf den Weg. Und wirklich, nach acht Jahren Putzen und Reinigen bei Kien, gelingt ihr ein Coup. Sie kauft weiße Handschuhe, um das schmutzige Buch, das er ihr schweren Herzens gegeben hat, zu lesen, und versucht sogar, es zu reinigen.
Kien ist entzückt:
Sie war eine großartige Seele. Da saß sie nächtelang über alten Flecken und plagte sich mit ihnen ab, statt zu schlafen. Er gab ihr sein lumpigstes, abgegriffenstes, schmierigstes Buch, aus Gehässigkeit, sie nahm es in liebevoll Pflege. Sie hatte Erbarmen, nicht mit Menschen, da war es keine Kunst, sondern mit Büchern.
Daraufhin heiratet Kien kurzerhand Therese, und Therese übernimmt das Regiment. Genau das hat ihr das Putzen gebracht. Strategisches Putzen könnte man das also nennen, Verführung mit den Mitteln des Saubermachens. Aus der Haushälterin wird die Hausherrin.
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Putzen als Druckmittel: Die Mutterfigur in Marion Poschmanns Roman
In Marion Poschmanns Roman „Chor der Erinnyen“ putzt die Mutter. Mathilda, die Heldin, ist ein nüchterner Charakter, sie ist Lehrerin für Mathematik und Musik. Ihr Leben scheint unter Kontrolle, bis ihr Mann plötzlich verschwindet.
Daraufhin zeigt sich: sie hatte ihr Leben nie im Griff, denn da gab es immer jemandem, dem sie gefallen wollte, dessen Anerkennung sie sich wünschte, ein Lob, ein gutes Wort, wenn nicht schon Liebe: die Mutter! Aber die, erinnert sich Mathilde, putzt!
Als Birte schließlich ihren Tornister geschultert hatte und die Tür hinter ihr zugefallen war, zerrte Mathildas Mutter den Staubsauger aus der Kammer und begann den Teppich zu saugen. Sie saugte immer weiter, sie arbeitete sich durch alle Zimmer und begann wieder von vorne, sie war nicht gründlich, sie war besessen. (…) An diesem Nachmittag verbrachte sie (Mathilda. Der Verf.) eine unendliche, träge verlaufende Zeit auf dem Badewannenrand, draußen das Dröhnen des Staubsaugers, das Poltern, wenn der Kopf gegen die Möbel prallte, das Klacken, wenn der Schlauch an den Beistelltisch schlug.
„Hausfrauenpsychose“ könnte man mit Sigmund Freud denken. Aber da ist die Schriftstellerin schlauer als der Psychoanalytiker, denn hier geht es nicht um Sauberkeit, nicht um Putzzwang, hier geht es um Macht. Putzen sagt mehr als tausend Worte. Putzen schafft das personifizierte schlechte Gewissen beim nicht Putzenden, wer putzt, hat den anderen im Griff.
Jedes Geräusch ist eine Schlinge, die sich langsam zuzieht. Putzende Mütter wissen das, erzählt uns Marion Poschmann. Nichtputzende Töchter auch.
Ein Ingenieur der Reinigung
Aber putzen denn Männer nie! Doch. 2023 gewann Valeria Gordeev den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit einem Text, der den lapidaren Titel trug: „Er putzt“. Und das sehr gründlich. Natürlich darf auch hier die Mutter nicht fehlen. Und natürlich lesen wir auch hier eine vertrackte Emanzipationsgeschichte, denn Putzen und Macht sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
ASMR auf der Bühne: „Er putzt“ von Valeria Gordeev in Wiesbaden
Konstantin, der Sohn, ist hier der Putzteufel. Darum bleibt der Mutter in dieser Konstellation nur die Rolle des Ironisierens. Aber während bei Marion Poschmann der Putzakt vom wilden Furor getrieben wird, ist Konstantin ein Ingenieur der Reinigung.
Kühl und schlicht erprobt er Hilfsmittel, Instrumente, Einsatzwege. Und die präzise Autorin hat sichtlich Spaß bei der klinischen Beschreibung. Wer in der Familie als Techniker auftritt, hat die typische Gefühlsduselei schon auf Abstand gebracht.

Genau darum putzt Konstantin. Oder anders: Putzen offenbart eine Art Familienaufstellung. Denn da ist noch die kleine Schwester, um die sich Konstantin außerordentlich sorgt, weil sie sich die Ohren mit Wattestäbchen reinigt und sich dabei verletzten könnte. „Die Gehörgänge sind nur dreieinhalb Zentimeter lang, Wattestäbchen hingegen sieben.“ So erklären Ingenieure ihren Geschwistern, dass sie sie lieben.
Am Ende ist die Diagnose eindeutig: Töchter putzen, Mütter putzen, Frauen putzen, Söhne putzen, nur einer putzt nie: der Vater.