Buchkritik

Oliver Hilmes – Ein Ende und ein Anfang

Stand

Von Autor/in Michael Kuhlmann

Der Zeithistoriker Oliver Hilmes befasst sich in „Ein Ende und ein Anfang“ mit dem Sommer 1945: der Zeit zwischen der Kapitulation Deutschlands im Mai und dem Ende des Zweiten Weltkrieges im August.

Geschichte ist zäh, trocken, öde – so das unausrottbare Klischee. Bücher wie dieses von Oliver Hilmes beweisen das Gegenteil. Denn „Ein Ende und ein Anfang“ ist alles andere als fad. Wie existierte man in einem Land, von dem die Sieger des Krieges zuvor verlangt hatten, bedingungslos zu kapitulieren?

Wie ernährten sich die Deutschen, die in Trümmern lebten? Wie erlebten aber auch Emigranten die Zeitläufte – jene, die vor der deutschen Diktatur geflohen waren? Hilmes weiß gekonnt zu erzählen – auch von einer Debatte im japanischen Kriegskabinett: Wie sollte Japan reagieren auf die Atombombe von Hiroshima? 

Während die sechs Kabinettsmitglieder erbittert streiten, nähert sich ein amerikanischer B-29-Bomber der japanischen Küstenstadt Kokura, die unter dichten Wolken liegt. Major Charles Sweeney, der Pilot des Flugzeugs, unternimmt drei Versuche, seinen Auftrag zu erledigen, ehe er entscheidet, stattdessen das etwa zweihundert Kilometer entfernte Nagasaki anzusteuern. Dort über der Stadt öffnet sich um 11 Uhr 02 ein Schacht unterhalb der Maschine, und eine Plutoniumbombe mit einer Sprengkraft von 22.000 Tonnen TNT rast in Richtung Erde.

Anrührende Details aus dem Leben der einfachen Leute 

Zusammengehalten wird die Darstellung vom Gang der Ereignisse in Deutschland. Zusammenbruch, Besetzung, schließlich Potsdamer Konferenz der Sieger und Brüche zwischen Ost und West. Die Niederlage Japans bildet einen Nebenstrang.

Eine Stärke des Buches sind anrührende Details: So erzählt Hilmes von dem jüdischen Paar Adolf und Margot Friedländer. Die beiden haben den deutschen Terror überlebt und sind in ein Lager in Deggendorf gekommen. Dort führen Insassen die Operette „Im weißen Rößl“ auf. Hilmes zitiert Margot Friedländer, die sich bis heute – mit 103 Jahren – als Zeitzeugin engagiert: 

Das Weiße Rößl war wie eine Heilung, für uns und die Zuschauer.

Adenauers Aussöhnungspläne mit Frankreich 

An anderer Stelle erinnert Hilmes daran, wie der legendäre Pianist Emil Gilels auf Stalins Geheiß am Rande der Potsdamer Konferenz zu spielen hatte. Er erzählt aber ebenso von der Rettung eines todkranken deutschen Jungen durch Penicillin.

Oder von dem Berliner Restaurantbetreiber Heinz Zellermayer, der gerissen an seine Zutaten kommt: auf dem Schwarzmarkt. Und von noch einem Schlitzohr ist die Rede: Dieser Mann residiert in einem Haus in Rhöndorf über dem Rhein und er macht sich Gedanken über eine Aussöhnung mit Frankreich. 

Adenauer knüpft damit an Überlegungen an, die er bereits in der Weimarer Republik entwickelt hat: Eine enge wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung der beiden Länder soll dem Sicherheitsbedürfnis der Franzosen entgegenkommen und zugleich überzogenen Reparationsforderungen sowie separatistischen Überlegungen auf französischer Seite entgegenwirken. Im Laufe des Septembers werden Adenauers Kontakte zu französischen Besatzungsbehörden immer enger. Man munkelt sogar von einer streng geheimen Begegnung mit Charles de Gaulle in der Abtei Maria Laach, doch da ist wohl nichts dran.

Alle Quellen genau benannt 

Hier könnte Hilmes einen Tick präziser sein: Es war tatsächlich nichts dran. Aber in puncto Präzision hat sein Buch eng verwandten Darstellungen wie dem unlängst erschienenen „1945“ von Volker Heise etwas voraus: Hilmes hat alle seine Quellen im Anhang genau benannt.

Eine Einladung zum Weiterlesen. Zwei Schwachpunkte teilt Hilmes wiederum mit Heise: Diese anekdotische Geschichtserzählung macht zwar neugierig. Sie zeigt, wie große Politik und Alltag parallel abliefen. Aber historische Zusammenhänge erklärt sie nur sehr begrenzt.

Und: Sobald es um Deutschland geht, erzähle auch Hilmes mit einer geradezu penetranten Berlin-Zentrierung. Dadurch sind auch ihm anrührende Geschichten entgangen. Die Welt war eine andere nach diesem Sommer – wie Hilmes im Untertitel sagt –, aber viel Bezeichnendes geschah auch weitab von Berlin.  

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