Monika Helfer erzählt in „Der Bücherfreund“ von Leben der Bücher, vom Lesen und Schreiben, vor allem aber von ihrem Vater und ihrer eigenen Nachkriegskindheit in der Bergwelt der Vorarlberger Alpen.
Im Hintergrund die Berge, im Vordergrund die Bücher. Bücherberge, sozusagen. Die Berge: schneebedeckt. Die Bücher: ein Stapel, als weißer Schatten. So sieht das Umschlagbild für Monika Helfers schmuckes Büchlein „Der Bücherfreund“ aus. Wenn man es aufschlägt, riecht es nach Druckerschwärze und nach Farbe. Das liegt an den Illustrationen von Kat Menschik, die auch das Titelbild gestaltet hat.
Viele Tiere sind da zu sehen. Ein Rehbock, ein Schimpanse, übergroße Insekten. Und Bücher, gestapelt oder aufgeblättert, so dass sie zu fliegen scheinen wie Schmetterlinge, Bücher auf einer Bergwiese und Bücher im Bücherregal. All das sind Motive aus Monika Helfers Geschichte. Es ist die Geschichte ihres Vaters und die Geschichte ihrer eigenen Kindheit auf der Tschengla, einem Alpen-Hochplateau in Vorarlberg.
Mein Vati war der Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern saß. Das heißt, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn die konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie.
Kurzversion als Legende
Die Geschichte ihres Vaters hat Monika Helfer vor ein paar Jahren schon einmal in dem Roman „Vati“ erzählt. Jetzt liefert sie die Kurzversion als Legende, kondensiert aufs Wesentliche. Das Wesentliche aber sind die Bücher.
Der Vater, kriegsversehrt, weil ihm als Soldat Hitlers in Russland ein Bein erfror und amputiert werden musste, verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester. Die beiden heirateten und leiteten nach dem Krieg ein „Kriegsopfererholungsheim“ hoch oben auf der Tschengla. Dort wurden Monika Helfer, ihre Schwester und ihr Bruder geboren. Ein Heidelberger Professor, dessen kriegsbeschädigter Sohn dort dauerhaft unterkam, spendete seine Büchersammlung, die der Vater sorgsam hütete.
Zur 2998 Bände umfassenden Bibliothek hatte außer ihm selbst nur die Tochter Monika Zutritt.
Er zeigte mir, wie man ein Buch richtig aufschlägt, damit der Buchrücken nicht schief und die Fadenheftung nicht versehrt wird. Man nimmt ein Buch aus dem Regal, streicht mit den Fingern beider Hände darüber, dann öffnet man es leicht, steckt die Nase hinein und riecht, und dann erst blättert man und sucht eine Stelle, die man lesen möchte.
Unerfüllter Wunsch
Die Bücher sind die Unversehrten im Kriegsversehrtenheim. Weil Menschen Böses tun, müssen die Bücher vor ihnen geschützt werden. Gleichwohl ist der Vater ein leidenschaftlicher Leser und verhinderter Wissenschaftler. Bücher und Wissenschaft gehören für ihn zusammen; das Menschheitswissen ist sein Trost.
Als unehelicher Sohn eines reichen Bauern und seiner Magd brachte er sich als Kind selbst Lesen und Schreiben bei, wuchs in einem Klosterinternat auf und hätte studiert, wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre. Sein größter Wunsch, dass eines Tages sein Name mit einem Doktor davor an der Tür eines Laboratoriums stehen möge, ging deshalb nicht in Erfüllung. Ganz ähnlich klingt dann aber auch der Wunsch der Tochter:
Beim Nachhausegehen fragte er mich aus. Was ich einmal werden möchte. Ich sagte, ich möchte Schriftstellerin werden. Da lachte er und fragte, warum. Ich sagte: „Ich möchte, dass irgendwann mein Name auf einem Buchrücken steht.“
Wie wir wissen, hat dieser Wunsch sich erfüllt. Nach Monika Helfers Roman „Vati“ ist auch die Legende vom Bücherfreund ein Vermächtnis, mit dem die Welt der Bücher, der sich der Vater verschrieben hatte, auf ganz andere Weise bewahrt wird. Das Kindheitsparadies – nichts anderes war diese abgelegene Bergwelt mit dem Bücherschatz im Herzen – war wie jedes Paradies nicht von Dauer.
Die Mutter starb, das Heim wurde aufgelöst und in ein Hotel umgewandelt, die Familie musste raus, die Bibliothek sollte im Antiquariat verramscht werden. Diesen Gedanken konnte der Vater nicht ertragen und suchte nach einem Weg, um die Bücher, wenigstens die guten, also fast alle, zu retten. Doch wie unterscheidet man gute von schlechten Büchern? Seine Antwort ist einfach: Am Geruch.
Bei guten Büchern verwendet der Buchbinder besseres Papier und besseren Leim. Aber natürlich weiß er auch, dass erst die Lektüre wirklichen Aufschluss gibt. Der Vater kann sich von keinem einzigen seiner Bücher trennen.
Keine autofiktionale Literatur
Der Stoff mag mehr oder minder autobiographisch sein, doch Monika Helfer ist meilenweit entfernt von der gängigen autofiktionalen Literatur etwa von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgard. Ihr nahezu märchenhafter Es-war-einmal-Tonfall katapultiert das Erzählte aus der bloßen Erlebnishaftigkeit heraus.
Die Verdichtung des Stoffs und die reduzierte Sparsamkeit des Ausdrucks, die zu knappen, präzisen Sätzen führt, sind geradezu das Gegenteil der barocken Überfülle eines Knausgard-Romans. Diese Verknappung konnte man schon in Helfers vorigem, Werk, der 365 Geschichten für jeden Tag umfassenden Sammlung „Wie die Welt weiterging“ bewundern.
In „Der Bücherfreund“ gelingt es ihr erneut, historisches Material oder ganz Alltägliches in Literatur zu verwandeln und etwas entstehen zu lassen, das aus sich heraus lebt. So wie der Vater, der hier zu einer unvergesslichen Figur geworden ist.
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