Wie aus einem Moment der Erinnerung tausende Seiten Roman werden
„In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, erschienen bei Suhrkamp)
Es ist dieser Moment, der bei Ich-Erzähler Marcel den Motor der Erinnerung anspringen lässt. Der Geschmack eines in Lindenblütentee getauchten Gebäcks, der berühmten Madeleine, katapultiert den Ich-Erzähler in seine Kindheit zurück, als ihm seine Tante Léonie eben dieses in Tee getauchte Gebäck gereicht hatte.
Aus diesem Moment entwickelt Marcel Proust seinen siebenbändigen, über viertausend Seiten langen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Er gilt als Schlüsselwerk für die Romanliteratur des 20. Jahrhunderts.
Porträt zum 100. Todestag Marcel Proust – Meister der literarischen Moderne
In seinem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nimmt Marcel Proust uns mit auf eine Reise des Sich-Erinnerns. Ihn zu lesen heißt, langsam zu werden, genau hinzusehen, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten.
So beginnt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Im Zentrum steht der Erzähler Marcel, der im Lauf des Romans erwachsen wird, seine Homosexualität entdeckt, unglücklich liebt und seine Zeit in Salons verbringt. Der Zyklus handelt von Gefühlen, Erinnerungen und Wahrnehmungen, Literatur, Kunst und Musik, von Architektur, Psychologie, Philosophie und vielem mehr – ein über 4.000-seitiges, kaum auszumessendes Werk in sieben Bänden.
Marcel Proust von der verlorenen zur wiedergefundenen Zeit
Der letzte Band des Werkes heißt jedoch „Die wiedergefundene Zeit“. Es ist die Zeit, in der die Hauptfigur Marcel zu sich selbst kommt. Er wird darin zum Schriftsteller und ahnt, dass Kunst ein Widerstand gegen die Verwerfungen des Lebens und gegen den Tod sein kann:
Proust bejaht diese Frage. Und seine Texte zu lesen heißt, langsam zu werden, genau hinzusehen, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten – gerade in einer Zeit, in der sich Meldungen und Meinungen überschlagen.
Diskussion in SWR2 Forum: Der Weltliterat Marcel Proust
Literaturkritiker Denis Scheck über „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“:
„Es wäre ein Irrtum zu glauben, wir kämen schon als Menschen zur Welt. Unsere Aufgabe ist vielmehr, uns zu solchen zu entwickeln, indem wir unsere Erlebnisfähigkeit trainieren, ein Wertesystem entwickeln, uns einen moralischen Kompass zulegen. Doch wie geht das? Zum Beispiel, indem wir Marcel Proust lesen.“