Der Soziologe Janosch Schobin hat mit einsamen Menschen gesprochen. In seinem Buch „Zeiten der Einsamkeit“ erkundet er einfühlsam und genau unterschiedliche Formen der Einsamkeit. Seine klugen Erkundungen schaffen keine Abhilfe, aber sie können dabei förderlich sein, klarer zu sehen.
Immer mehr Menschen leben allein. Nicht alle leiden darunter. Wer allein ist, muss sich keineswegs einsam fühlen. Aber nicht erst seit der Corona-Pandemie ist offenbar geworden, dass Einsamkeit krank machen kann. Der Soziologe Janosch Schobin hat mit einsamen Menschen in Deutschland, den USA und Chile gesprochen, um das „universelle Gefühl“ Einsamkeit näher zu bestimmen.
John, den der Autor in Brooklyn trifft, hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen, als in seinem Viertel alles den Bach runterging – zumindest aus seiner Sicht. Als angestammte Familien weggezogen sind und neue Mieter die Wohnungen übernommen haben, „Griechen, Latinos, Araber“ – alles Fremde also. John, der Fremde hasst, ist nicht sympathisch und will es auch nicht sein. Die Einsamkeit hat sich in seinen Körper regelrecht eingeprägt, bestimmt die Art, wie er redet und denkt. Mit Folgen.
Wenn sich die Einsamkeit in den Körper, in die Bewegungen und die Sprache einschreibt, dann wird sie für den Betroffenen immer intransparenter, immer schwieriger in den Blick zu nehmen: Sie wird selbst zur Farbe der Linse, durch die das Licht der Welt zu einem dringt.
Benachteiligung durch Armut und Geschlecht
Es ist eine Beobachtung, die der einfühlsame Autor immer wieder machen und präzise zur Sprache bringen wird. Janosch Schobin hat 71 Interviews mit einsamen Menschen geführt, die er „als Experten ihres eigenen Lebens ernstnimmt“. An acht ausgewählten Fällen, die er ausführlich beschreibt und analysiert, zeigt Schobin, wie sich Einsamsein in bestimmten gesellschaftshistorischen Zusammenhängen ausgeformt hat. Er nimmt Menschen in den Blick, die einsam, allein und unbemerkt sterben.
In Deutschland werden es immer mehr. Er schildert am Beispiel von zwei Frauen, wie einsam Hinterbliebene sind. Und er spricht mit einer einsamen in Harlem aufgewachsenen Afroamerikanerin, die ihrem ursprünglichen Milieu entwachsen ist, ohne sich in dem Künstler- und Intellektuellenmilieu, in das sie den Aufstieg geschafft hat, fest verankern zu können.
Es gilt als ausgemacht, dass moderne, individualistische Gesellschaften immer einsamer werden, weil die neuen, selbstgewählten Bindungen unsicherer und flüchtiger sind als vordem Familienstrukturen. Aber so einfach ist es nicht, sagt Janosch Schobin. Er macht deutlich, dass nicht beides gleichzeitig zu haben ist: hohe Beziehungsautonomie und bedingungslose Bindungen. Und er fragt, ob eine hohe Bindungsstabilität zum Preis einer niedrigen Beziehungsautonomie wirklich vorzuziehen ist.
Die Geschichte der Chilenin Marta legt dies nicht nah. Die aus armen, bildungsfernen Verhältnissen stammende Frau, die mit einem Säufer verheiratet ist, hat keine Chance, ihrer Benachteiligung durch Armut und Geschlecht zu entkommen.
Extreme Belastungstests
Wer von Beziehung zu Beziehung hopst, mag mitunter einen subtilen Mangel, eine kriechende Beziehungsunfähigkeit und ein vages Gefühl der sozialen Wertlosigkeit empfinden, die zusammen zu Recht als Einsamkeit bezeichnet werden können. Mit der zermürbenden, lebenslangen Vereinsamung, die aus der untergeordneten Position von Frauen in den Gesellschaften Lateinamerikas resultiert, lässt sich die subtile Leere hyperdynamisierter Beziehungsbiografien nicht vergleichen.
Janosch Schobin ist ein aufmerksamer Zuhörer. Er hat ein feines Gespür für sein Gegenüber, und er ist ein ausgezeichneter Erzähler, der seine Erkundungen mit viel Sinn für Dramaturgie aufgebaut hat.
Zuletzt wagt er einen Ausblick auf „die Zukunft der Einsamkeit“. Er rechnet damit, dass künstliche Intelligenz und Medikamente gegen Einsamkeitsbelastungen zum Einsatz kommen werden. Vor allem aber vermutet er, dass durch die schnelle Abfolge von Krisen, denen wir seit einigen Jahren ausgesetzt sind und wohl auch bleiben werden, soziale Gefüge weiterhin extremen Belastungstests ausgesetzt werden. Janosch Schobins Buch schafft keine Abhilfe, aber es kann dabei förderlich sein, klarer zu sehen.
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Rezension von Johannes Kaiser