Buchkritik

Ines Berwing – zertanzte schuhe

Stand

Von Autor/in Beate Tröger

Ines Berwings zweiter Gedichtband „zertanzte schuhe“ entfaltet vertrackte Bildwelten zwischen Kindheit und Mutterschaft, Angst und Zuversicht. Die Ästhetik des Films und die Logik des Traums spielen darin eine zentrale Rolle.

Eines der gleichermaßen bekannten wie kurzen Gedichte des 20. Jahrhunderts stammt von William Carlos Williams. „The Red Wheelbarrow“, deutsch „Die Rote Schubkarre“ dauert vom Autor selbst gelesen gerade einmal siebzehn Sekunden. Hier eine deutsche Übersetzung: 

Die rote Schubkarre 
Es hängt so viel 
von / einer roten, mit Regenwasser 
glasierten Schubkarre / neben den weißen 
Hühnern ab.

Visuelle Knalleffekte 

Visuell signalhaft, ähnlich wirkend wie ein warnendes Verkehrszeichen, definiert dieses Gedicht einen großen Interpretationsspielraum. Solche visuellen Knalleffekte setzt auch Ines Berwing ein.

Gleich die erste der insgesamt acht Abteilungen des konsequent in Kleinschreibung verfassten Bandes „zertanzte schuhe“ heißt „der rote ballon“. Das gleichnamige Gedicht im Band klingt so: 

der rote ballon / wenn ich die tür öffne, kommt / ein roter ballon. ich komme immer /
zu spät. der frühling ist meine / schuld, verdammt, er rollt / körperbetont von komma zu komma her. / wenn ich die tür öffne, kommt / fahrt in den honig oder ein roher / mann im ballon, der mich fragt / möchtest du eine singlefahrt / ich sage ihm, fahr du ruhig schwarz / und schüttle, was frühling heißt / vom balkon und schließe die tür.

Vom Konkreten ins Verdichtete 

Berwings Gedichte setzen Bildelemente konkret ein, werden dann aber in ihrer Deutung extrem vertrackt. Sie springen zwischen der Perspektive des lyrischen Subjekts, zwischen Sichtbarem und Introspektion, sie setzen die Redensart „schwarz fahren“ gegen die sichtbare Qualität des roten Ballons.

Damit rückt die Frage näher: Ist der Ballon in diesem Gedicht tatsächlich rot? Oder sieht das Sprecher-Ich vielleicht nur rot, im Sinne der Redensart „Rotsehen“ als Pendant zu der Redensart des „Schwarzfahrens“?  

Öffnen und Schließen der Tür sind als Bilder eindeutig. Dagegen das Schuldsein am Frühling, der am Ende vom Balkon geschüttelt wird, sein körperbetontes Rollen von Komma zu Komma geben produktive Rätsel auf.

Berwings Verse vollführen häufig die Bewegung vom Konkreten ins Verrätselte, Traumhafte, im wahrsten Sinn des Wortes Verdichtete: 

noch eine übung im bewundern von tieren / ratten beherrschen den wohnblock nachts / und um die lilie in meinem zimmer / wächst welkend das glas, sprach aber niemals / über die ratten und meine lage von einst / hielt den fuß bereit für ein hüpfendes / über den müll hinwegspringendes pferdchen.

Schaurig ist dieses Gedicht, mit seinem bedrohlichen, abweisenden und unwirklichen Szenario, dessen Morbidität mit einer als Totenblume geltenden Lilie noch unterstrichen wird. Am Ende wendet es sich in der Verkleinerungsform des Pferds zu einem Pferdchen, das über den Müll hinwegspringt, ins Hellere.  

Kalkulierte Zeilensprünge 

Ines Berwings Gedichte folgen den Logiken des Traums. Sie nehmen eine Tradition auf, in der Montage und Collage bestimmend sind. Man kennt diese Techniken aus dem Surrealismus, aus Filmen von Luis Buñuel, aus Herta Müllers Dichtung und jüngst auch aus den Gedichten von Yevgeniy Breyger, auf dessen Zyklus „Königreich“ aus dem Band „gestohlene luft“ die Autorin verweist.

Berwing wagt einiges mit „zertanzte schuhe“, vieles gelingt, seien es die Gedichte über ersehnte Mutterschaft, seien es die Gedichte, in denen durch kalkulierte Zeilensprünge sich die ohnehin schon komplexen Bedeutungsschichten noch deutlicher überlagern.

Die Elemente, die sie aus den Grimmschen Märchen nimmt, von den „zertanzten schuhen“ bis zur zornigen Fee aus „Dornröschen“ werden nicht selten auf ihre Muster hin gelesen.

Ines Berwings Gedichte fordern etwas von der Konzentration, die es gebraucht haben mag, sie zu schreiben und zu arrangieren – und spiegeln diese Konzentration ihren Lesern zurück. 

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