Das Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ von Otto Müller hängt heute im Museum Ludwig in Köln. Von den Nazis als „entartet“ abgestempelt, durchlitt es einen Parcours durchs 20. Jahrhundert. Der Zeichner Luz, der 2015 durch Glück den Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ überlebte, erzählt davon in seiner neuen Graphic Novel.
Die Graphic Novel von Luz beginnt so: Ein kleiner, pausbackiger Junge in Lederhose und grün-kariertem Hemd läuft durch eine Ausstellung. Er bleibt plötzlich stehen, runzelt die Stirn, neigt seinen Kopf nach links und rechts, dann greift er beherzt zu und rückt etwas gerade: Das Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ von Otto Müller.
Der Junge sieht das Bild 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München. Mehr als 700 Werke sind in der Ausstellung der Nationalsozialisten zu sehen.

„Entartete Kunst“ auf Kinderhöhe
Die Nazis haben die Bilder extra schräg aufgehängt, um zu demonstrieren, dass die von ihnen sogenannte „Entartete Kunst“ nicht in die ordentliche Volksgemeinschaft passt. Sie hängen extra schräg oder extra tief, das ist dem französischen Comiczeichner Luz aufgefallen, als er historische Fotografien aus der Ausstellung sah. Es sei ihm sofort ins Auge gesprungen, dass das Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ von Otto Müller auf Kinderhöhe hing.
Luz fand heraus, dass damals auch tatsächlich Kinder die Ausstellung „Entartete Kunst“ besuchen durften: „Eine Ausstellung gegen Kunst, die man nicht sehen durfte. Also, vielleicht hatte ein Kind Zugang zu einem Werk, das es nicht sehen sollte. Das macht die Sache unglaublich“, so Luz.

Durch die Augen der „Zwei weiblichen Halbakte“
Unglaublich ist für den Comiczeichner Luz auch die Geschichte dieses wenig bekannten Gemäldes von Otto Müller. Einen Parcours durch das 20. Jahrhundert, so nennt Luz den wechselhaften Weg des Bildes, dem er in seinem Comic „Zwei weibliche Halbakte“ nachgeht. Und er wählt eine geniale Bild-Idee: Wir, die Leserinnen und Leser schauen aus der Perspektive des Gemäldes, also der beiden Halbakte in die Welt.
Die Comic-Perspektive hängt davon ab, wo das Bild hängt, steht oder liegt. Wenn es getragen wird, sehen wir Unterarme. Wenn es in eine Kiste eingepackt ist, wird es dunkel und höchstens eine Spinne krabbelt durchs Sichtfeld. Immer sind wir Zeugen - unmittelbar.

Weg des Bildes ist repräsentativ für das 20. Jahrhundert
Luz hat sich intensiv mit dem Gemälde auseinandergesetzt und konnte dafür auch in den Archiven des Museum Ludwig, wo das Bild heute hängt, recherchieren. Das Bild finde er nicht nur sehr schön, auch seine Geschichte hat den Zeichner gepackt: „Mir wurde klar, dass es einen unglaublichen Weg hinter sich hatte. Einen Weg, den viele gar nicht kennen, der aber sehr repräsentativ ist für den Weg eines Bildes in diesem chaotischen zwanzigsten Jahrhundert und vielleicht auch für den Weg der Menschen in diesem Jahrhundert.“
Parcours durch das 20. Jahrhundert
Zusammen mit Otto Müller reist das Bild nach Breslau und wird verkauft, an den jüdischen Anwalt und Kunstsammler Ismar Littmann. In Littmanns Arbeitszimmer hängt das Gemälde gegenüber einem Fenster. Wir sehen aus dem Blick des Bildes, wie sich langsam die Welt da draußen verdüstert: Zwei Nazis pinkeln betrunken ein Hakenkreuz in den Schnee, dann marschieren sie mit Hakenkreuz-Fahnen und schließlich prügeln sie einen jüdischen Nachbarn zu Tode.
Littmann wird sich weigern, seine umfangreiche Kunstsammlung an die Familie Krupp zu verkaufen. Er wird seine Zulassung als Anwalt verlieren und sich schließlich das Leben nehmen. All das hören und sehen wir im Comic aus der Perspektive der „Zwei weiblichen Halbakte“.

Luz interessieren die toten Winkel der Geschichte
Durch den genialen zeichnerischen Kniff füllt Luz auch die, wie er es nennt, toten Winkel der Geschichte. Es geht einem unter die Haut, wenn sich Wolfgang Willrich, Chefideologie der NS-Kunst, ganz nah vor unseren Bildausschnitt beugt und uns ein „Völlig entartet“ ins Gesicht schleudert. Mit dem Gemälde schauen wir wie durch eine Luke dem Nazi ins Gesicht und in die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Alte Zeichen kehren wieder
Auch heute halten wir eine solche Luke in den Händen, sagt Luz: Auf unseren Smartphones sehen wir, wie alte Zeichen wiederkehren, zum Beispiel wenn Techmilliardär Elon Musk den Hitlergruß zeigt. Mit seinem Comic ruft er dazu auf, aktiv zu werden: „Mein Buch soll auch das Bewusstsein dafür wecken, dass man nicht mehr unbedingt untätig bleiben kann, wie ein Bild an der Wand. Denn eines ist sicher: Wir sehen diese Dinge und wir müssen nachdenken und uns von der Wand lösen.“
„Ich habe meine Einsamkeit getötet“
Im Leben des Comiczeichners Luz hat das Gemälde von Otto Müller bereits etwas verändert: Es habe seine Einsamkeit getötet, wie er im Gespräch mit SWR Kultur erzählt. 2015 überlebte Luz durch Glück den Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Seitdem lebt er unter Polizeischutz.
Als er das Gemälde von Otto Müller im Museum Ludwig zum ersten Mal sehen konnte, sei das ein bewegender Moment gewesen: „Mir wurde klar, dass ich nicht allein bin. Nicht nur, weil Mitarbeiter aus dem Museum Ludwig dabei waren. Sondern auch, weil mich das Bild angeschaut hat. Und mir klar wurde, dass ich zusammen mit all den Menschen davorstehe, die es geliebt und gehasst haben.“
Jetzt hofft der Zeichner, dass sein Comic seinen eigenen Weg dank der Leser*innen gehen wird: „Mir gefällt der Gedanke, dass das Buch gelesen wird, dass es verschenkt wird, dass sich Menschen einen Satz anstreichen oder den Comic im Zug liegen lassen. Der Gedanke, dass das Buch nun auf Reisen geht, macht mich sehr glücklich.“
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