Buchkritik

Hubert Winkels – Die Hände zum Himmel

Stand

Von Autor/in Eberhard Falcke

So etwas gibt es nicht alle Tage: Das große Lebens- und Gedankenbuch einer Schlüsselfigur des deutschen Literaturbetriebs. „Die Hände zum Himmel. Über Zufall, Schönheit und den Dorfpfarrer von Gohr“ von Hubert Winkels ist eine erstaunliche intellektuelle Wunderkammer. 

Nein, zu den üblichen Ruhestandswerken pensionierter Literaturkritiker gehört dieses Buch nicht. Ganz im Gegenteil. Hubert Winkels hat mit den tausend Seiten, die er seit seinem Abschied vom Redaktionsschreibtisch verfasst hat, ein intellektuelles Feuerwerk gezündet, das seinesgleichen sucht. Doch was ist das für ein Werk, das keine Gattungsbezeichnung trägt?  

Wildwuchs auf dem Kopf und im Kopf 

Um es kurz zu sagen: Es ist ein Buch über alles, über Leben und Tod, Kultur und Gesellschaft, über Religion, Mythologie und vieles mehr. Zum Beispiel über Haare und Frisuren, wobei der Autor zugleich die Gelegenheit nutzt, einiges über das Wachsen und Wuchern seines Buches zu verraten.  

Eigentlich habe ich immer um einen kontrollierten Wildwuchs gerungen, auf dem Kopf und im Kopf, eine vorsichtige Durchlässigkeit, einen achtsamen Synkretismus, eine Bejahung der Koinzidenz, Flechtwerk in den Haaren und im Denken, Überraschung und Gelächter in Kunst und Religion, im Sozialen und der Politik.

Empfänglichkeit für Religion und Transzendenz 

„Die Hände zum Himmel. Über Zufall, Schönheit und den Dorfpfarrer von Gohr“, so hat Winkels dieses weiträumige Textgeflecht anspielungsreich überschrieben. Hände richten sich sowohl im Gebet als auch im Karnevalstrubel gen Himmel und der Pfarrer des Geburtsortes Gohr hatte seinen Anteil daran, dass Winkels eine besondere Empfänglichkeit für Religion und Transzendenz entwickelte.

Das vierzigseitige Namensregister neben dem siebenseitigen Inhaltsverzeichnis nennt unter J zwar keine Elfriede Jelinek, Jesus aber an die hundert Mal.  

Kirchen und Friedhöfe werden in kenntnisreichen Gedankengängen durchmessen, die Gedenkstätten der deutschen Erinnerungspolitik in Berlin kritisch begutachtet. In autobiographischen Schlaglichtern zeigt sich der Autor als liebender Sohn, Vater, Freund, Kollege, Begleiter, als Mensch unter Menschen. 

Lebensführungsdeutungspotential auf allen Wegen 

Was aber am meisten ins Auge fällt, ist die eminente intellektuelle Dynamik, der gedankliche Drive, der jede Seite dieses Buches bestimmt. Nahezu alles wird auf den Seziertisch der genauen Analysen und Interpretationen gehoben. Kaum etwas bleibt unerklärt, nur weniges wird schlicht erzählt. Stets bereit zum Staunen über sich selbst, beschreibt der Autor sein Vorgehen so: 

Bildung, Freundschaft, Naturerfahrung, Krankheit, Geld, Idiosynkrasien und Besessenheit, Kunstwerke und viele weitere weltliche Erscheinungen taugen als rote Motivfäden durch ein Leben, haben auch Lebensführungs- und Lebensführungsdeutungspotential.

Für einen Scherz sollte man die begriffliche Massenkarambolage dieses Wortungetüms lieber nicht halten. Nein, es handelt sich dabei schlichtweg um den Ausdruck eines Genauigkeitsextremismus, der glücklicherweise meist eleganter und luzider daherkommt.  

Hubert Winkels zeichnet hier ein fast überlebensgroßes Selbstporträt als leidenschaftlicher Denker von hellster Geisteswachheit in den besten Momenten und von unerbittlicher Klügelei in manch anderen. Jedenfalls ist dieses Buch eine überreich bestückte intellektuelle Wunderkammer. Wer sich damit zur Lektüre niederlässt, fühlt sich mal gefesselt, mal erschlagen aber trotz solchen Zwiespalts mit Sicherheit bereichert. 

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