Deutsch-argentinische Geschichte zwischen persönlichem Schicksal und politischer Gewalt: Die preisgekrönte Autorin Birgit Weihe erzählt in ihrer neuen Graphic Novel „Schweigen“ von zwei deutschen Frauen, die Oper der argentinischen Militärdiktatur wurden.
Zwei junge Frauen kommen zu unterschiedlichen Zeiten aus Deutschland nach Argentinien
Ellen Marx ist gerade erst 17, als sie in Buenos Aires argentinischen Boden betritt. Als Jüdin muss sie aus Deutschland fliehen. Allein, mit einem Koffer in der Hand, beginnt sie ihr neues Leben. Ihre Eltern bleiben in Deutschland, sie wird sie nicht wiedersehen.
Ganz anders Elisabeth Käsemann 30 Jahre später. Die Studentin macht sich auf den Weg, um in Lateinamerika gegen Armut und Unterdrückung zu kämpfen. Sie wird eines der bekanntesten Opfer der Militärdiktatur, die Bundesregierung interessiert sich mehr für die bilateralen Beziehungen als für ihren Tod.
Weil die Nazis die Mutter ausgebürgert hatten, fühlt sich die Bundesregierung nicht zuständig
„Mir war ganz wichtig zu zeigen, dass Deutschland und Argentinien schon eine längere Geschichte haben“, sagt Birgit Weyhe. Die unguten Verquickungen seien schon länger da gewesen, es habe sich nicht nur im Käsemann-Fall auch um wirtschaftliche Interessen gedreht.
Denn auch die Tochter von Ellen Marx verschwindet während der argentinischen Militärdiktatur – und weil die Nazis ihre Mutter in den 1930ern ausgebürgert hatten, fühlt sich die Bundesregierung für ihr Schicksal nicht zuständig.
Mindestens 9000 Menschen gehörten zu den „desaparecidos“, den Verschwundenen
Die Verschwundenen, die „desaparecidos“, das ist ein gängiger Begriff für die mindestens 9.000 Menschen, die in Argentinien während der Diktatur entführt und ermordet wurden. Übrigens auch Mitarbeiter deutscher Konzerne wie Mercedes Benz. Ein fast harmloser Begriff – und für die Zeichnerin einer Graphic Novel eine Herausforderung.

„Dieses Verschwinden der Personen ist nicht darstellbar, sagt sie, „man weiß nicht, wohin sie gekommen sind, sie sind halt weg. Und das war etwas, was mich sehr herausgefordert hat und wo ich dann immer wieder versucht habe, das bildlich neu zu finden.“
Birgit Weyhe packt das schwer Darstellbare in abstrakte Bilder
Birgit Weyhe macht diese Lücke zum Thema. Mal füllt das „Tick-Tack“ einer Uhr das Panel, als Ellen Marx verzweifelt auf ihre Tochter wartet. Mal übermalt sie eine ganze Seite schwarz, nachdem Nora zum letzten Mal die Wohnung verlässt.

Überhaupt findet Weyhe Bilder für das schwer Darstellbare, die Gewalt der Nazis wie der argentinischen Folterer. Mal ist es die Abstraktion, die Figuren verschwimmen zu energischen, unkontrollierten Strichen. Mal zeigt Weyhe Gegenstände in Großaufnahme.
Das „Schweigen“ zieht sich durch das Buch
Die Zeichnerin wusste aus Protokollen, dass Elisabeth Käsemann zu diesem Zeitpunkt in einem furchtbaren Zustand war, mehr tot als lebendig, wie sie sagt: „Und das wollte ich nicht zeichnen. Ich wollte sie nicht vorführen, nur um sie dann nochmal ermorden zu lassen visuell.“
400 Seiten lang zieht sich das „Schweigen“ durch das Buch. Weil Ellen Marx über ihre Erfahrungen als Nazi-Verfolgte nicht sprechen kann, genauso wie die Opfer der Militärdiktatur. Aber auch, weil dieses Schweigen dann letztlich gebrochen wird.
Erfolge in der Erinnerungskultur werden nach Amtsantritt von Milei wieder in Frage gestellt
Ellen Marx wird Mitglied der Mütter der Menschenrechtsorganisation Plaza de Mayo, die seit Jahrzehnten nach den Verschwundenen sucht. Und im Fall von Elisabeth Käsemann werden, sehr spät, nämlich 2014, vier ehemalige Militärangehörige zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Dieser Kampf gegen das Beschweigen hält an, sagt Birgit Weyhe, denn durch den Amtsantritt von Milei habe sich Bruch in der Erinnerungskultur aufgetan. Gedenkstätten würden gerade wieder unter unter Druck stehen: „Das Militär kriegt wieder einen ganz anderen Stellenwert und die Verschwundenen sind die, die Schuld haben. Das hat für mich auch nochmal gezeigt, wie dringlich das ist, solche Geschichten zu erinnern.“
Starke, berührende Lektüre über die Geschichte der beiden verschwundenen Frauen
Birgit Weyhe hat sich tief in die Recherche gestürzt, war vor Ort und hat mit Hinterbliebenen gesprochen. Deshalb kommen einem die Figuren auch nahe, die Verbindungen zwischen den beiden Frauen, die sich nie getroffen haben, sind offenkundig. In diesen Kapiteln ist „Schweigen“ eine starke, eine berührende Lektüre.
Unterbrochen wird diese Doppelbiographie immer wieder von Hintergrundinformationen zur Judenverfolgung oder zur 68er-Bewegung, die manchmal ein bisschen didaktisch wirken. Dennoch: Wie gut, dass diese beiden Leben so eindringlich erzählt werden.
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