Buchkritik

Fernando Aramburu – Der Junge

Stand
Autor/in
Theresa Hübner

Jeden Donnerstag besucht Nicasio das Grab seines Enkels Nuco, der bei einer Explosion in seiner Schule starb. Eine bewegende Geschichte über Trauer, Erinnerung und den Versuch, neu anzufangen.

Jeden Donnerstag macht sich der alte Nicasio auf Weg zum Friedhof. Ob es regnet, oder schneit, ob ihn der Ischias zwickt, oder die Lunge Probleme macht – der alte Herr lässt sich nicht abhalten, denn er will den kleinen Nuco besuchen, seinen Enkel, der hier in einer der Grabnischen liegt.

Wie üblich haucht er auf das Glas, wischt mit seinem Taschentuch darüber, beugt sich näher heran und sagt: Ich hole dich hier raus, Nuco. Ich weiß zwar noch nicht, wann, aber ich hole dich hier raus. Nur Geduld.

Eine traumatisierte Gemeinde

Am 23. Oktober 1980 ist Nicasios Enkel Nuco gestorben. Seine Schule im kleinen Dorf Ortuella im Baskenland explodierte aufgrund einer defekten Gasleitung. Fünfzig Kinder und drei Erwachsene verloren ihr Leben, die Explosion war noch in sechs Kilometern Entfernung zu hören. Das Unglück traumatisierte die kleine Gemeinde, die furchtbaren Bilder prägten sich ins kollektive Gedächtnis ein.

Zwischen den Trümmern sah man geborstene Schreibpulte und verbogene Stühle. Überall lagen die Körper fünf und sechsjähriger Kinder auf der Straße, blutüberströmt, zerfetzt, die Kleidung zerrissen. Einige waren durch die Luft geflogen und verrenkt und entstellt auf einer Seite des Schulhofs gelandet. Und wo bis kurz vor Mittag noch die Klassenräume der Kleinsten gewesen waren, gähnten jetzt drei gewaltige Löcher (…)

Diese reale Katastrophe bildet die Grundlage für Fernando Aramburus neuen Roman Der Junge. Die Geschichte konzentriert sich auf die Familie des bei dem Unglück gestorbenen kleinen Nuco. Aramburu erzählt das gemeinsame Trauma des kleinen Ortes anhand der Familie des toten Nucos – Großvater Nicasio, Mutter Mariaje und Vater José Miguel. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Mariaje und eines Erzählers geschildert.

Zudem gibt es eine dritte, distanziertere Ebene: Der Roman, und durch ihn der Autor selbst, meldet sich zu Wort und reflektiert den eigenen Schreibprozess. Er sei, lässt der Text seine Leserinnen und Leser wissen, nur eine „Summe von Wörtern, die so angeordnet sind, dass sie eine Bedeutung erlangen“.

Da sich das Unglück von Ortuella wirklich ereignet hat, es sich also nicht um fiktives Leid handelt, ist sich der Text seiner Verantwortung bewusst. Er kann, wenn der Autor nicht sorgfältig genug vorgeht, ins Melodramatische abrutschen. Oder schlimmer noch: er müsse sich vorwerfen lassen, eine „gute Geschichte“ auf Kosten des Leids der Hinterbliebenen zu erzählen.

Trotzdem bedrängt mich die Sorge, gegen meinen Willen zu kunstvoll, zu literarisch zu werden und am Ende ein Büchlein hervorzubringen, das wie ein Roman daherkommt und Gefahr laufen könnte, mögliche Leser zu Beifall oder sogar Lob zu bewegen, und dies auf Kosten einer Tragödie, die für viele Familien ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen ist.

Taktvolle Sprache für das Leid

Doch die Sorge des Textes, die Sorge Aramburus, ist unbegründet – denn das Buch trifft immer den richtigen Ton. Das gelingt auch, weil sich Aramburu als Erzähler zurücknimmt. Er verzichtet auf Metaphern und andere sprachliche Stilmittel, baut nicht künstlich Spannung auf durch Cliffhanger oder überraschende Wendungen. Stattdessen erkundet Aramburu die inneren Dramen und das Leid  seiner Charaktere auf taktvolle Weise und gibt ihnen so angemessenen Raum.

José Miguel will sich nicht von der Traurigkeit besiegen lassen und überredet Mariaje dazu, mit ihm ein weiteres Kind zu zeugen. Doch Mariaje verliert nach und nach alle Zuneigung zu ihrem Mann. Die stärkste Figur ist der alte Nicasio, der sich trotzig weigert, den Tod seines Enkels zu akzeptieren. Der Schmerz des alten Mannes ist in vielen Szenen greifbar.

Als Mariaje das Kinderzimmer ausräumen will, baut der Großvater kurzerhand alles in seiner eigenen Wohnung wieder auf.

Nicasio wollte in seiner Wohnung nicht nur Nucos Möbel wieder originalgetreu aufstellen, sondern desgleichen mit dem Inhalt der Schubladen verfahren, mit den Bildern an den Wänden, den Figürchen, Büchern, der herumliegenden Spielsachen. Zu diesem Zweck verbrachte er, da er keinen Fotoapparat besaß, einen ganzen Nachmittag in der Wohnung seiner Tochter, machte allerhand Notizen und zeichnete unzählige Pläne.

Ein abruptes Ende

Es gibt wohl keine perfekten Worte für den Verlust eines Kindes, aber dieses Buch kommt ganz nah heran. Aramburu gelingt es, das unermessliche Leid mit Respekt und Feingefühl zu schildern, ohne ins Sentimentale abzudriften.

Einzig das abrupte Ende der Geschichte überzeugt nicht. Die Handlung franst aus, verliert sich in privaten Details von Mariaje, insgesamt wirkt das Büchlein schlicht zu schmal, die Geschichte nur halb fertig erzählt – warum Aramburu „Der Junge“ so kurz gehalten hat, bleibt sein Geheimnis. Frühere Werke, wie der Bestseller „Patria“ oder auch „Die Mauersegler“ waren epochale, dicke Bücher.

Dennoch bleibt „Der Junge“ ein intensives und tief berührendes Leseerlebnis. Und trotz seiner Kürze entfaltet der Roman eine große emotionale Wucht – nicht zuletzt durch Aramburus präzise, schnörkellose Sprache, die den Schmerz umso eindringlicher macht.

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Theresa Hübner