Wenn man versteht, was die westliche Moderne auszeichnet, wird man vielleicht in der Lage sein, ihre Errungenschaften in Zeiten der globalen Krise zu verteidigen, argumentiert Detlef Pollack in „Große Versprechen“.
Die Gesellschaften der westlichen Moderne sehen sich einer Reihe von Krisen gegenüber: Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und die Klimaveränderung stellen die lange gewachsene Vorstellung vom unaufhaltsamen Fortschritt infrage.
Das große Versprechen der Moderne sei brüchig geworden, konstatiert der Soziologe Detlef Pollack. Die westlichen Gesellschaften hätten sich polarisiert, die öffentliche Diskussion sei von Häme und Herabsetzung gekennzeichnet, „moralisierender Alarmismus“ die falsche Antwort auf die Probleme der Gegenwart.
Pollacks Anspruch ist es, die Kontroversen zu versachlichen, indem er die Grundstrukturen moderner Gesellschaften rekonstruiert, um so Argumente gegen das herrschende Unbehagen in der Kultur zu gewinnen.
Ernüchterung gegenüber utopischem Denken in der Moderne
Aus einem historischen Rückblick gewinnt Pollack die Einsicht, dass die Moderne schon in ihren Ursprüngen zur Zeit der französischen Revolution nicht nur durch das Versprechen auf Verbesserung des menschlichen Lebens gekennzeichnet gewesen sei, sondern ebenso durch eine deutliche Ernüchterung gegenüber dem utopischen Denken.
Bei allem Streben nach dem Ganzen, Notwendigen und Absoluten betreibt die Aufklärung auch die Suche nach dem rechten Maß der Mitte, bemüht sie sich um eine Praxis der Verhältnismäßigkeit und entwickelt sie zunehmend eine Skepsis gegenüber dem Prinzipiellen.
Pollack gibt dafür einige Beispiele, überhaupt zeichnet sich sein Buch dadurch aus, dass abstrakte Theoreme immer anschaulich gemacht werden:
Auf die Entfesselung der Wirtschaft, die zu exzessivem Ressourcenverbrauch und Umweltproblemen führt, reagieren moderne Gesellschaften u.a. durch Bepreisung von CO2. Kapitalistische Finanzmärkte werden reguliert, der Sozialstaat dämpft Ungleichheit durch Umverteilung ab, internationale Konflikte werden durch Diplomatie eingedämmt usw.
Moderne nicht apokalyptisch denken
Pollack positioniert sich explizit gegen apokalyptische Theorien der Moderne, etwa der Kritischen Theorie, des Postkolonialismus und Poststrukturalismus, die eine generelle Entfremdung des Menschen, die Zerstörung der Natur, Ausbeutung und Unterdrückung diagnostizieren.
Ohne die Leistungen der kapitalistischen Marktwirtschaft könnten (…) Familien ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Die Ausgaben des Sozialstaats befördern das familiäre Zusammenleben; die Ausweitung wissenschaftlicher Einsichten ist die Voraussetzung für eine gute medizinische Versorgung; die Einnahme von Steuern garantiert eine gute Schulbildung.
Zwar sei das Krisenmanagement moderner Gesellschaften oft mangelhaft, zum Beispiel hätten sie zu spät und zu langsam auf die Klimakrise oder die militärische Bedrohung durch Russland reagiert.
Dennoch – und das ist die aktuelle politische Pointe von Pollacks Argumentation – seien die westlichen Demokratien, auch weil sie von starken Zivilgesellschaften bestimmt sind, besser geeignet, Wohlstand, Gesundheit, Freiheit und Würde der Menschen zu gewährleisten als autoritäre Staaten.
Aber wenn das so ist, woher kommt dann der Aufschwung rechtspopulistischer Parteien?
Ursachen des Rechtspopulismus
Pollack erklärt das weniger durch ökonomische Entwicklungen, die zu sozialer Ungleichheit und Statusverlust führen. Entscheidender seien Verunsicherung durch die fortschreitende Globalisierung, mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und zunehmende Fremdenangst, die bei den Betroffenen zu Ohnmachtsgefühlen, Ressentiments und nostalgischen Reaktionen führen:
Es soll wieder so werden, wie es angeblich einmal war, als Deutschland noch den Deutschen gehörte, als Leistung belohnt wurde, als es noch keine Gendersternchen gab und jeder das essen konnte, was ihm schmeckte.
Weder eine generelle Ablehnung der Moderne noch deren blinde Befürwortung sind nach Detlef Pollacks Ansicht richtige Antworten auf die kumulierten Krisen der Gegenwart.
Man solle die großen Erwartungen an die Zukunft nicht aufgeben, müsse sich vielleicht aber damit abfinden, dass die Umsteuerung und Selbstkorrektur komplexer westlicher Gesellschaften nicht immer schnell genug funktionierten. Das klingt bei allem theoretisch behaupteten Optimismus am Ende doch etwas ratlos.
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