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Ist die Mutter eine Zauberin?
„Huch – sie kann ja zaubern“, denkt das kleine Mädchen. Eben noch hat es dicke Tränen geweint. Auf dem Weg zur Schule war das Kind hingefallen und hatte sich große Löcher in die Strumpfhose gerissen. Aber – Zauberei! – die Mutter wendet das peinliche Schicksal: Die Strumpfhose wird ausgezogen, von magischen Mutterhänden berührt, wieder angezogen – und siehe da: Die Löcher sind verschwunden. Dass sie nun in den Kniekehlen klaffen, bemerkt das getröstete kleine Mädchen nicht.
Die Kindheitserinnerung an die mütterliche Zauberin, mit roter Tinte in sparsamen Linien gezeichnet, hat die belgische Künstlerin Dominique Goblet als „Einleitung“ ihrer Bildergeschichte vorangestellt. „so tun als ob heißt lügen“ ist eine fragmentarische Autobiografie, die berührend und im besten Sinn wahrhaftig von sehr intimen Erfahrungen und Verletzungen handelt. Goblet erzählt nicht-chronologisch von entscheidenden, vermutlich prägenden Momenten ihres Lebens, von traumatisierenden Kindheitserinnerungen und dem Liebesleid der Erwachsenen.
Der titelgebende Satz fällt im ersten Kapitel. Die einstmals kleine Dominique ist nun selbst Mutter. Mit ihrer Tochter Nikita ist sie zu Besuch bei ihrem Vater und dessen Lebensgefährtin Cécile. Die kleine Nikita hat ein Bild gemalt und zeigt es Cécile:
In krakeligen Großbuchstaben stehen die Worte auf einer ebenso krakeligen Zeichnung. Die ohnehin fast gesichtslose Cécile ist hier nur noch ein Strichmännchen, wie von einem Kind gezeichnet.
Das Schriftbild verdeutlicht den Zustand des alkoholkranken Vaters
Aufgeblasen erscheint dagegen Dominiques Vater. Der Besuch, von dem hier erzählt wird, ist der erste nach vier Jahren Funkstille zwischen Tochter und Vater, einem Feuerwehrmann im Ruhestand. Ein zorniger bitterer Mann, dicker Schnurrbart, enormer Bierbauch. Ein Alkoholiker, der die Trennung von Dominiques Mutter offenbar noch immer nicht verwunden hat. Weinflasche und Glas dominieren die kindlich wirkenden, teilweise mit bräunlichem Leinöl kolorierten Zeichnungen – und eine chaotische, unsichere Schrift, die zwischen unbeholfener Schreibschrift und Großbuchstaben hin und her schwankt: Ein „alkoholisisertes“ Schriftbild, das den Zustand des sprechenden Vaters verdeutlicht.
Und plötzlich erscheint der polternde Vater dann tatsächlich als Heilige Jungfrau Maria: Im Stil einer Ikone hat ihn Dominique Goblet gezeichnet, inklusive ornamental verziertem Heiligenschein. „Was, ist das etwa nicht wahr?“ steht in feierlicher Schönschrift über der schnauzbärtigen Mutter Gottes – wobei der Buchstabe „W“ wunderbar ironisch aus zwei furzenden affenähnlichen Figuren gestaltet ist. Das humorvolle Ikonenbild macht deutlich: Die Erzählerin sucht und gewinnt Abstand zu ihrem offensichtlich narzisstischen und selbstgerechten Vater.
Schon auf der nächsten Seite aber ist der zornige Kerl wieder da, steckt sich eine Zigarette an und poltert weiter:
Ein weinendes Kind, von der Mutter an einen Balken gefesselt
Es ist vor allem eine Zeichnung, mit der Dominique Goblet das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern veranschaulicht: Ein weinendes Kind – sie selbst - mit nach oben gestreckten Armen, die an einen Balken auf dem Dachboden gefesselt sind. Die Mutter, jene liebevoll tröstende Zauberfrau vom Anfang des Buchs, erdachte und vollzog diese brutale Bestrafung, der Vater unternahm nichts dagegen.
Parallel zur Auseinandersetzung mit dem alkoholkranken Vater erzählt Dominique Goblet von einer Beziehungskrise. Ihr Geliebter hängt seiner Ex-Freundin nach. Als Phantom ist sie ständig in den Zeichnungen präsent, auch wenn der Geliebte „so tut als ob“ da nichts wäre.
Vielfältige Techniken und wechselnde Stile prägen das Werk
An „so tun als ob heißt lügen“ hat Dominique Goblet zwölf Jahre lang gearbeitet. Doch es hat sicherlich nicht allein damit zu tun, dass sich der graphische Stil von Kapitel zu Kapitel, manchmal von einer Seite zur nächsten, verändert. Rote Tinte, realistische Bleistiftzeichnungen, kindliche Strichmännchen, Aquarelle – die Techniken sind vielfältig.
Virtuos und vielsagend zitiert Dominique Goblet in ihrer Bildsprache auch kunsthistorische Vorbilder. Edvard Munchs „Schrei“ bei der Darstellung der gruseligen Cécile, prähistorische Höhlenzeichnungen für die Figur des gehörnten Vaters, die abstrakte Farbfeldmalerei eines Mark Rothko, als es um das Unsagbare der Liebe geht.
Das Genre „autobiografische Comic-Literatur“ hat leider schon oft banale, geschwätzige Selbstportraits hervorgebracht. Umso mehr ist Dominique Goblets „so tun als ob heißt lügen“ ein Glücksfall: ein künstlerisches Comic-Buch, das die Grenzen der Sprache durch starke, aber nie plakative Bilder erweitert und gleichzeitig die intellektuellen Fallen autobiografischer Erinnerungs- und Bekenntnisliteratur erfolgreich meidet.
Dominique Goblet erzählt von echtem Schmerz, aber ohne Larmoyanz und mit humorvoller Distanz. „so tun als ob heißt lügen“ ist ein kleines Meisterwerk in Worten und Bildern.