Buchkritik

Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila

Stand

Von Autor/in Silke Merten

Im Comic „Die Straßenkatzen von Manila“ blickt Archie Oclos mit den Augen von sechs Katzen auf das menschliche Treiben der philippinischen Hauptstadt. Sie sehen Armut, Korruption und Gewalt. Aber auch unerwartete Hilfsbereitschaft.

Straßenkatzen sind in philippinischen Großstädten quasi überall. Sie dürften also einen unverstellten Blick auf die Menschen haben – auf gute wie schlechte Seiten ihres Zusammenlebens. Diesen Blick macht sich der Künstler Archie Oclos zunutze - und sechs dieser Tiere zu Hauptfiguren in seinem Comic-Debüt „Die Straßenkatzen von Manila“.

Dabei erzählt er in fünf Episoden aus dem Alltag einer oder zweier Katzen, im Stil einer Sozialreportage, naturalistisch gezeichnet in grau, schwarz und weiß. In schnappschussartigen Porträts hält er ihre Suche nach Schutz oder Futter fest - oder eine überraschende Begegnung mit Menschen.

Oclos geht dabei ganz anders mit Bildern um als die meisten anderen Zeichner. Er platziert auf die rechte Buchseite jeweils ein ganzseitiges Bild. Auf der linken Seite stehen dazu drei Schlagworte, die es illustrieren oder in einen bestimmten Kontext einbetten. Erst beim Umblättern kommt durch ein neues Bild und neue Schlagworte eine Entwicklung in Gang.

Ungewöhnliche Comicseiten: Ein Bild – drei Schlagworte

„Der Pirat von der Reifenwerkstatt“ in Episode 3 zum Beispiel ist ein kleiner Kater mit hartem Gesicht und nur einem Auge. Zu den Worten

Reifen
Luftzug
Ordnung

...sehen wir ihn auf einem Traktorreifen thronen. Dann wird er zum Zeugen, wie ein Politiker in der Reifenwerkstatt ankommt. Ein grinsender Anzugträger mit bewaffneten Leibwächtern. Fünfmal Umblättern später, und es heißt:

Kaltherzig
Befehlston
Streit

Im Bild rechts dazu hat der Politiker beim Aufstehen seinen Stuhl und seine Aktentasche umgestoßen - der Kater blickt auf Bündel von Geld, die herausquellen. So erzählt Oclos wie nebenbei von Korruption. Dass im selben Bild auch noch das Handy des Politikers zu Boden fällt, wird einige Seiten später wichtig. In einem der letzten Bilder der Episode sehen wir den kleinen Kater hinter einer Werkzeugkiste hocken. Und die Worte

Spielen
Krempel
Entdeckung

...führen den Blick der Lesenden nach links unten, wo auch der Kater hinschielt: zum Boden, aufs klingelnde Handy. Wer in dem Moment anruft, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Dass der Anruf ins Leere geht, dürfte für den Politiker unangenehm werden.

Archie Oclos' Katzen führen uns hinein ins öffentliche Leben Manilas, in eine Shopping Mall, zu einer Garküche oder an den Busbahnhof. Neben all den Streunern tritt in einer Episode auch eine verwöhnte Hauskatze auf.

Die Perspektive der Tiere konzentriert sich eher auf den Boden, die Menschen in den Bildern sehen wir also häufig ohne Kopf und stumm. Das lenkt den Blick auf ihr Handeln. So hält der Erzähler die Atmosphäre der Bedrohung durch stark bewaffnete Polizisten ebenso fest wie die Armut oder den Wohlstand.

Ein ungeschönter Blick auf die sozialen Verwerfungen Manilas

Dass Oclos Grau als beherrschenden Farbton gewählt hat, ist konsequent. Trübe wirken seine Bilder dadurch nicht, im Gegenteil. Die Bildmotive sind durch starke schwarze Konturen voneinander abgesetzt. Und immer wirken die Katzenporträts dynamisch, als hätte er sie mitten in der Bewegung festgehalten. Hier macht sich bemerkbar, dass Oclos als Street Artist arbeitet. Er ist gewohnt, in Einzelbilder an Häuserwänden das Maximum an Ausdruck zu packen.

Diese Stärke ist gleichzeitig die Schwäche des Comics. Die Kurzgeschichten aus Manilas Straßenleben bleiben Schlaglichter. Weder über den Hintergrund der Katzen noch den der Menschen erfahren wir etwas.

Ein Glück, dass Oclos im Nachwort Informationen zu den einzelnen Episoden liefert. Sonst würden europäische Lesende nicht verstehen, warum in der ersten Geschichte ein weinender Mann in einem Bus, dem sogenannten Jeepney, sitzt. Im Nachwort erfahren wir: Weil die Regierung die billigen Jeepneys durch E-Busse ersetzen will, steht der Fahrer vor dem wirtschaftlichen Aus.

Denn die meisten von ihnen sind Einzelunternehmer, sie kommen gerade so über die Runden und werden sich ein teures neues Fahrzeug niemals leisten können, so dass sie am Ende der Übergangsphase ihren Lebensunterhalt verlieren werden. Daher auch das Plakat „No to Jeepney Phaseout“, das einer der Jeepney-Fahrer in die Höhe hält.

So wie hier würde man sich auch an anderer Stelle mehr Informationen über Manila und seine Menschen wünschen. Trotzdem: Oclos‘ Momentaufnahmen aus den Philippinen von heute geben einen welthaltigen Einblick in ein uns wenig bekanntes Land. Das Urteil des Musikers Dong Abay lässt sich unterschreiben. Er fasst in seinem Vorwort nach Oclos‘ Methode der drei Schlagworte seine Eindrücke des Comics zusammen. Sie erfassen perfekt, was der Zeichner mit seiner Arbeit anspricht.

Gehirn
Auge
Herz

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