Eine Frau wird tot in der Nähe von Neu-Delhi auf dem ländlichen Anwesen eines reichen Unternehmers gefunden. Die Polizei interessiert sich kaum für diesen Fall: Die Dorfbewohner reden nicht mit Polizisten, und die Tote war vermutlich eine Prostituierte, die es nicht anders verdient habe. Nur der derzeit vom Dienst suspendierte Polizist Adhirath sieht das anders: Dieser Fall könnte ihm für seine bevorstehende Anhörung nützen, die über seine Zukunft bei der Polizei entscheidet.
Eine tote Prostituierte in der Nähe von Neu-Delhi
„Mord“ ist der wenig aussagekräftige Titel von Anjali Deshpandes Kriminalroman, der sich gerade in seiner Unbestimmtheit als überaus treffend erweist: Der Mordfall ist hier lediglich der formale Rahmen, um von der indischen Gesellschaft zu erzählen. Deshalb gibt es zwar die typischen Handlungselemente einer Mordermittlung: eine Tat, eine bequeme bis überforderte Polizei, einzelne Männer, die etwas verändern wollen, aber vom System ausgebremst oder behindert werden. Der Tatort, das beharrlich-verängstigte Schweigen der Zeugen von Anfang an darauf, dass jemand mit Geld, Macht und Einfluss mit der Tat zu tun hat. Aber es ist nicht die Identität des Täters, die hier für Spannung sorgt. Es sind andere Fragen: Wer war die Tote? Weshalb droht Adirath eine Suspendierung? Und: Wird der Täter für seine Tat jemals zur Verantwortung gezogen?
Anhand dieser Fragen liefert Deshpande, die auch als Journalistin arbeitete, hochinteressante Einblicke in Machtverteilung und Geschlechterbeziehungen in Indien. Adhirath gehört der Kaste der Jatavs an, die nach der indischen Verfassung zu den „Schedulded Castes“ gehören, den unteren Kasten. Einst war er stolz, dass er es trotzdem zur Polizei geschafft hat. Aber als er selbst einmal versuchte, seinen Einfluss gelten zu machen und gegen die Machtverhältnisse innerhalb der indischen Polizei aufbegehrt hat, wurde er suspendiert. Nun fehlen ihm das Geld und die Beziehungen, damit die bevorstehende Anhörung gut für ihn läuft.
Kastenproblematik und Geschlechterbeziehungen in Indien
Der Prostituiertenmord kommt ihm daher gelegen: Damit könnte er seinen Vorgesetzten beweisen, was er draufhat. Außerdem kommt er dann mal wieder raus. Zuhause wettern seine Eltern ständig gegen seine Ehefrau Puschpa – und Puschpa wiederum ist wütend auf ihn, weil er mit ihr nicht über die Anhörung spricht. Noch dazu bekommt Adhirath wegen der Suspendierung nur ein halbes Gehalt, so dass die Familie größtenteils von dem lebt, was Puschpa verdient. Aber selbst das hält seine Eltern nicht ab, ihm vorzuwerfen, er habe eine Frau geheiratet, die gesellschaftlich unter ihnen stehe und von „schlechter Herkunft“ sei. Und Puschpa? Sie sorgt für die Familie, geht zur Arbeit, kocht das Essen und könnte eine bessere Karriere als ihr Mann haben. Dennoch wird von ihr erwartet, dass sie ihm gehorcht. Aber Puschpa begehrt leise, still und ausdauernd dagegen auf. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass sich die Verhältnisse innerhalb – und auch außerhalb – der Familie allmählich ändern.
Konzentriert und sehr genau erzählt Anjali Deshpande von dem Leben in der Stadt und dem Dorf. Sie hinterfragt die Korruption, indem sie ihre Auswirkungen sowohl auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene beschreibt: Alle Polizisten lassen sich bestechen, aber das sagt noch nichts darüber aus, worüber sie hinwegblicken und wie sie ihre Arbeit machen. Der Gerichtsmediziner – ein Verwandter von Puschpa – nimmt Obduktionen nur gegen Schnaps und Geld vor, leidet aber unter der allgegenwärtigen Gewalt, gegen die er kein Mittel kennt. Leise spürt man bei Puschpa und anderen Nebenfiguren wie der gewählten Dorfratsvorsitzenden, dass Frauen mehr Platz für sich beanspruchen. Aber zugleich durchzieht Sexismus alles.
Konventioneller Kriminalfall, aber lebenspralle Geschichte
Anjali Deshpande wurde 1954 geboren, studierte Philosophie an der Delhi University und war in der Studenten- und Frauenbewegung aktiv. Sie hat an zahlreichen Aktionen zur Verbesserung der Lage der Dalits teilgenommen und schrieb als Journalistin eine Kolumne über Frauen. Ihr soziales Gespür und ihr politisches Engagement spürt man in diesem Roman, ohne dass sie alles überlagern oder gar pädagogisch werden. Vielmehr drücken sie sich vor allem in dem Blickwinkel aus, aus dem erzählt wird: Deshpande bleibt bei ihren Figuren, sie erhebt sich nicht über sie. Ein Merkmal guter Kriminalliteratur ist es, dass sie von denen erzählt, die sonst kaum Platz finden in der Literatur. Deshpande macht genau das – und deshalb verzeiht man ihr auch die konventionelle Konstruktion des Kriminalfalls mühelos.