Von wegen Genie – Dichten ist ein Handwerk, Transpiration, regelbasiert. Hans Magnus Enzensberger hat im neunten Band der „Anderen Bibliothek“ die rhetorischen und sprachlichen Mittel gesammelt, die es braucht, um ein Dichter zu werden. An die Arbeit, Poeten!
Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel: „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“. Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur. Beispiele gefällig?: Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie: Jargon, Zitat usw.
Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, das man lernen kann, aber eines, ohne das es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration. Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr?
In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: „i.V. Enzensberger“. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der „Anderen Bibliothek“, „Andreas Thalmayr“ sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym. Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie. Dass er später also einen „Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wenn wundert's.
„Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“, Band 9, 27. September 1985
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