Buchkritik

Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt

Stand

Von Autor/in Eva Karnofsky

Der Essay „Eine ganze Hälfte der Welt“ von Alice Zeniter verspricht, sich mit den vernachlässigten Frauen der Literatur zu beschäftigen. Er ist jedoch eher eine Auseinandersetzung der französischen Romanautorin mit ihren Lieblingsbüchern.

Wie in Geschichte und Wissenschaft, hat auch in der Literatur die Suche nach vergessenen Frauen begonnen. Außerdem setzte eine Auseinandersetzung damit ein, wie Frauen in der Literatur gesehen oder ihre Werke von der Kritik eingeordnet werden. Das Wort „Frauenliteratur“ etwa wird mit einem abwertenden Beigeschmack verwendet. Sie gilt als kitschig, als banal.

Das musste auch die französische Romanautorin Alice Zeniter feststellen. Bei den Recherchen für ihren Essayband „Eine ganze Hälfte der Welt“ stellte sie fest, dass nicht nur ihre Werke, sondern auch die anderer Autorinnen von den Medien abqualifiziert werden: 

Eine vollkommene Leidenschaft von Annie Ernaux wurde als »Backfischlektüre« bezeichnet, Marie Darrieussecq durfte über sich lesen, dass sie »Das Baby besser zusammen mit den dreckigen Windeln ihres Sohnes in die Tonne gehauen hätte«, und im Jahr 2017 betitelte die Sonntagszeitung Journal du Dimanche einen Artikel über Lola Lafon und mich mit den Worten: »Die netten Mädels, die bei den Neuveröffentlichungen dieses Herbstes den Ton angeben werden«. Wenn diese Männer und Frauen, deren Entscheidungsgewalt ungeheuer ist, die über Erfolg und Misserfolg der Verlagsprogramme bestimmen, so über Autorinnen sprechen, ob nun privat oder öffentlich, wie lässt sich dann verhindern, dass wir weniger achtbar, weniger lesbar erscheinen als unsere männlichen Kollegen?

Leserinnen häufig durch männliche Identifikationsfiguren geprägt  

Autorinnen sähen sich außerdem mit sexistischen Verhaltensweisen konfrontiert: 

Eine Autorin, das merkte ich sehr schnell, ist ein Körper, zu dem jeder eine Meinung hat. Nachdem ich zum ersten Mal in der Literatursendung La Grande Librairie aufgetreten war und voller Stolz das Podium mit Umberto Eco geteilt hatte, hielt es der Cheflektor meines Verlags für angebracht, mir vor Zeugen meine im Fernsehen getragene Kleidung anzukreiden, die mich, mit seinen Worten, »angestaubt« wirken lasse.

Nachdenklich stimmen auch Zeniters Beobachtungen zu ihrem eigenen Leseverhalten in Kindheit und Jugend. Sie wurde von Romanen geprägt, deren Identifikationsfiguren männliche Helden waren. Frauen dagegen waren keineswegs Heldinnen: 

Meine Erinnerung spult eine lange Reihe von Nebenfiguren ab, Objekte der Begierde männlicher Helden, oft passive Versatzstücke der Geschichte, die man entführen, einsperren, vergiften kann (manchmal alles hintereinander), eine Unzahl matter Gestalten, mit vor unerwiderter Liebe fahlem Teint, die sich die Nasen an Fensterscheiben platt drücken, hier und da ein paar weggesperrte Irre. 

Die Weibliche Perspektive geht verloren  

Sie listet viele Beispiele vor allem aus franzöischen Werken auf und zitiert ausführlich die US-amerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison zum Thema Identifikation mit Romanfiguren. So weit, so spannend und außerdem sowohl dem Titel und dem Untertitel des Buches angemessen. Letzterer verspricht, „Über Autorinnen - Heldinnen – Leserinnen“ zu erzählen.

Doch ab etwa Seite 100 ändert sich der Tenor: Nun geht es nur noch um Alice Zeniter – was sie sich beim Schreiben ihrer Romane gedacht hat, was sie von politischer Literatur hält oder was sie beim Schreiben oder Lesen ganz allgemein bewegt. Die weibliche Perspektive geht dabei verloren: 

Literarische Formen können mich auf rein intellektueller Ebene interessieren (»so etwas habe ich noch nie gesehen, das ist völlig neu«) und mich zugleich zutiefst langweilen. Seien wir ehrlich: Was mich bei manchen »schwierigen« Texten anspricht, ist weniger das Werk an sich als das Bild von mir selbst bei der Lektüre. 

Alice Zeniter wendet sich damit an Leser, die an den Hintergründen ihrer Romane interessiert sind oder die sich allgemein mit der Entstehung von Literatur auseinandersetzen. Die ersten Kapitel von „Eine ganze Hälfte der Welt“ hingegen leisten einen lesenswerten und sehr lebendig geschriebenen Beitrag zur Rolle der Frau in Literatur und Literaturbetrieb. 

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Der Rassismus als „Gebräu aus Dunkelheit und Andersartigkeit“ – das gebe es in dieser Form nur in Amerika, schrieb Toni Morrison. Die Nobelpreisträgerin war eine der wichtigsten schwarzen Stimmen der USA. Der Band „Selbstachtung zeigt sie als hochreflektierte Essayistin. Rezension von Angela Gutzeit. Toni Morrison: Selbstachtung Ausgewählte Essays Rowohlt Verlag ISBN 978-3-498-00143-8 544 Seiten 24 Euro

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