Wer einen Blick in das mobile Atelier eines Nassplatten-Fotografen wirft, fühlt sich fast wie in eine andere Zeit versetzt. Gedämpftes Licht dringt durch rote Scheiben, Chemikalien stehen aufgereiht auf dem Arbeitstisch, und eine Glasplatte wird behutsam mit einer zähflüssigen Lösung überzogen.
Es herrscht konzentrierte Stille, jeder Handgriff sitzt, jede Sekunde zählt. Diese ruhige und zugleich intensive Atmosphäre macht die Faszination des Nassplatten-Kollodium-Verfahrens aus – einer Technik, bei der jedes Bild automatisch ein unwiederholbares Kunstwerk wird.

Was ist Nassplatten-Kollodium-Fotografie?
Das Verfahren wurde um 1850 von Frederick Scott Archer entwickelt und setzt auf mit Kollodium beschichtete Glasplatten. „Kollodium ist eine durchsichtige, farblose Lösung, welche sich durch eine hohe Viskosität und Klebeeigenschaften auszeichnet. Nach dem Trocknen erhärtet sie“, erläutert Fotohistoriker Peter Michels in seinem Standardwerk „Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplattenfotografie“.
Ursprünglich als medizinischer Schnellverband eingesetzt, fand Kollodium in der Fotografie eine neue Bestimmung.
Man arbeitet zwar autark von der Fotofilmindustrie, wird jedoch durch die Unzulänglichkeit des Aufnahmeprozesses eingeschränkt. Es ist eine kreative Challenge.
Ein komplexer chemischer Prozess
Die Glasplatten werden unmittelbar vor der Aufnahme mit Kollodium begossen, anschließend in ein Silbernitratbad gelegt, wodurch eine lichtempfindliche Schicht entsteht.
„In drei bis fünf Minuten kommt es zu einer Fällung. Es bildet sich ein lichtempfindlicher Niederschlag aus Silberhalogeniden: Silberbromid und Silberiodid“, beschreibt Michels präzise. Die Glasplatte mit dem Motiv ist das Negativ, das erst durch einen dunklen Hintergrund als Positiv sichtbar wird.

Direkt nach der Sensibilisierung wird die Platte belichtet – dieser Schritt erfordert Präzision und Schnelligkeit. Die anschließende Entwicklung erfolgt mit einem Eisensulfat-Entwickler.
Dabei reduziert sich das Silber weiter, und das Bild wird sichtbar. Die nicht belichteten Silberhalogenide werden schließlich mit einer Natriumthiosulfatlösung fixiert, um das Bild dauerhaft haltbar zu machen.
Ein Prozess voller Herausforderungen – und Magie
Das Verfahren ist nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern auch körperlich und mental herausfordernd. Michels nennt es bewusst „Zen in der Fotokunst“. Fotografen stehen bei diesem Prozess immer wieder vor Überraschungen und Herausforderungen: von Wettereinflüssen über Temperaturschwankungen bis hin zu chemischen Reaktionen, die nur schwer vorhersehbar sind.
Die Nassplatte lebt von ihrer besonderen Charakteristik, welches von von Fotograf*innen des 19. Jhd. versucht wurde zu unterdrücken. Heute zelebriert man genau diese ästhetischen Unzulänglichkeiten wie die typischen Gußränder und Artefakte.
Gerade diese Unberechenbarkeit erzeugt die einzigartige, oft rätselhafte Ästhetik der Bilder. Jedes Foto trägt Spuren seiner Entstehung – von kleinen Fehlern, chemischen Artefakten bis hin zu überraschenden Lichtspielen, die jedes Werk unverwechselbar machen.
Steffen Diemers künstlerischer Blick
Der Fotograf Steffen Diemer, der in der Mannheimer Ausstellung „staubfrei“ vertreten ist, zeigt, wie zeitgemäß und ausdrucksstark die Nassplatten-Kollodium-Technik sein kann.
Diemer inszeniert alltägliche Objekte wie Blumen oder Schaumküsse auf eine Weise, die zugleich vertraut und entrückt wirkt. Die intensiven Schwarz-Weiß-Kontraste und feinen Nuancen in seinen Bildern zeugen von der Tiefe und Qualität dieser historischen Methode.








Ästhetisches Empfinden und visuelle Wirkung
Die Nassplatten-Kollodium-Fotografie besitzt eine ästhetische Wirkung, die sich bewusst gegen die Perfektion digitaler Bilder wendet. Ihre besondere Anmutung entsteht durch die charakteristische Schärfentiefe, die ungleichmäßigen Kanten und die feinen Nuancen in den Schwarz-Weiß-Tönen.
Oft entsteht ein nostalgisches, beinahe mystisches Empfinden, das auf Betrachterinnen und Betrachter emotional intensiv wirkt. Diese Fotografien wirken zeitlos und unmittelbar zugleich – sie laden in dieser rastlosen Zeit, in der wir leben, dazu ein, innezuhalten und genauer hinzusehen.