Zwischen Nostalgie und Alchemie

Die Wiederentdeckung der Nassplatten-Kollodium-Fotografie

Stand

Von Autor/in Christian Batzlen

Die Nassplatten-Kollodium-Fotografie zieht Kunstschaffende und Betrachtende gleichermaßen in ihren Bann. Dieses historische Verfahren aus dem 19. Jahrhundert erlebt aktuell eine Renaissance, bei der alte Techniken auf neue kreative Impulse treffen – zu sehen auch in der Ausstellung „staubfrei – analoge Fotografie“ im PORT25 in Mannheim.

Wer einen Blick in das mobile Atelier eines Nassplatten-Fotografen wirft, fühlt sich fast wie in eine andere Zeit versetzt. Gedämpftes Licht dringt durch rote Scheiben, Chemikalien stehen aufgereiht auf dem Arbeitstisch, und eine Glasplatte wird behutsam mit einer zähflüssigen Lösung überzogen.

Es herrscht konzentrierte Stille, jeder Handgriff sitzt, jede Sekunde zählt. Diese ruhige und zugleich intensive Atmosphäre macht die Faszination des Nassplatten-Kollodium-Verfahrens aus – einer Technik, bei der jedes Bild automatisch ein unwiederholbares Kunstwerk wird.

Eine Fachkamera im Fotostudio
Die Fachkamera erlaubt durch ihre flexible Bauweise das präzise Einstellen von Perspektive und Schärfeebene. Gerade bei der Nassplatten-Kollodium-Fotografie wird sie wegen ihrer Präzision und Vielseitigkeit sehr geschätzt.

Was ist Nassplatten-Kollodium-Fotografie?

Das Verfahren wurde um 1850 von Frederick Scott Archer entwickelt und setzt auf mit Kollodium beschichtete Glasplatten. „Kollodium ist eine durchsichtige, farblose Lösung, welche sich durch eine hohe Viskosität und Klebeeigenschaften auszeichnet. Nach dem Trocknen erhärtet sie“, erläutert Fotohistoriker Peter Michels in seinem Standardwerk „Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplattenfotografie“.

Ursprünglich als medizinischer Schnellverband eingesetzt, fand Kollodium in der Fotografie eine neue Bestimmung.

Man arbeitet zwar autark von der Fotofilmindustrie, wird jedoch durch die Unzulänglichkeit des Aufnahmeprozesses eingeschränkt. Es ist eine kreative Challenge.

Ein komplexer chemischer Prozess

Die Glasplatten werden unmittelbar vor der Aufnahme mit Kollodium begossen, anschließend in ein Silbernitratbad gelegt, wodurch eine lichtempfindliche Schicht entsteht.

„In drei bis fünf Minuten kommt es zu einer Fällung. Es bildet sich ein lichtempfindlicher Niederschlag aus Silberhalogeniden: Silberbromid und Silberiodid“, beschreibt Michels präzise. Die Glasplatte mit dem Motiv ist das Negativ, das erst durch einen dunklen Hintergrund als Positiv sichtbar wird.

Beschichtung mit Kollodium wird über eine alte Platte für eine Plattenkamera geschüttet
Beschichtung mit Kollodium wird über eine alte Platte für eine Plattenkamera geschüttet. Wichtig ist dabei, dass die Platte während des gesamten Prozesses feucht bleibt; trocknet sie, verliert sie ihre Lichtempfindlichkeit rapide.

Direkt nach der Sensibilisierung wird die Platte belichtet – dieser Schritt erfordert Präzision und Schnelligkeit. Die anschließende Entwicklung erfolgt mit einem Eisensulfat-Entwickler.

Dabei reduziert sich das Silber weiter, und das Bild wird sichtbar. Die nicht belichteten Silberhalogenide werden schließlich mit einer Natriumthiosulfatlösung fixiert, um das Bild dauerhaft haltbar zu machen.

Ein Prozess voller Herausforderungen – und Magie

Das Verfahren ist nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern auch körperlich und mental herausfordernd. Michels nennt es bewusst „Zen in der Fotokunst“. Fotografen stehen bei diesem Prozess immer wieder vor Überraschungen und Herausforderungen: von Wettereinflüssen über Temperaturschwankungen bis hin zu chemischen Reaktionen, die nur schwer vorhersehbar sind. 

Die Nassplatte lebt von ihrer besonderen Charakteristik, welches von von Fotograf*innen des 19. Jhd. versucht wurde zu unterdrücken. Heute zelebriert man genau diese ästhetischen Unzulänglichkeiten wie die typischen Gußränder und Artefakte. 

Gerade diese Unberechenbarkeit erzeugt die einzigartige, oft rätselhafte Ästhetik der Bilder. Jedes Foto trägt Spuren seiner Entstehung – von kleinen Fehlern, chemischen Artefakten bis hin zu überraschenden Lichtspielen, die jedes Werk unverwechselbar machen.

Steffen Diemers künstlerischer Blick

Der Fotograf Steffen Diemer, der in der Mannheimer Ausstellung „staubfrei“ vertreten ist, zeigt, wie zeitgemäß und ausdrucksstark die Nassplatten-Kollodium-Technik sein kann.

Diemer inszeniert alltägliche Objekte wie Blumen oder Schaumküsse auf eine Weise, die zugleich vertraut und entrückt wirkt. Die intensiven Schwarz-Weiß-Kontraste und feinen Nuancen in seinen Bildern zeugen von der Tiefe und Qualität dieser historischen Methode.

Steffen Diemer  Fotografien
Während wir auf unseren Smartphones, ohne Rücksicht auf Verluste, ein Bild nach dem anderen knipsen, geht Fotograf Steffen Diemer einen ganz anderen Weg. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Jedes seiner Bilder ist ein Unikat und extrem zeitaufwendig in der Herstellung. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
„Ich möchte, dass der Betrachter es bei meinen Bildern fließen lassen kann. Dass Ruhe einkehrt, und dass man zu sich selbst findet.“ So schildert der Landauer Fotograf seine Intention. Sein Bedürfnis nach Ruhe und Frieden ist auf sein altes Leben zurückzuführen. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Jahrelang war Steffen Diemer (Mitte, sitzend auf einem Pferd) für Zeitungen und Magazine wie „Der Spiegel“, „FAZ“ oder „National Geographic“ als Kriegsreporter in den Krisenregionen dieser Welt unterwegs. Von Afghanistan bis Libyen: Ständig fing er Gewalt und Leid auf dieser Welt in Bildern ein. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Doch dann passierte etwas, vor dem ihn auch die journalistische Distanz nicht schützen konnte. Steffen Diemer erinnert sich ungern: „Vor meinen Augen wurde ein Mensch erschossen, der mir sehr nahestand. Das habe ich auch bis heute nicht überwunden.“ Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Seitdem ist Steffen Diemer auf der Suche nach Frieden. In seinem Leben sowie in seinen Bildern. Mit einer Kamera, die speziell für ihn und sein aufwendiges Aufnahmeverfahren, das sogenannte „Nassplatten-Kollodiumverfahren“, gebaut wurde, stellt er einzigartige Aufnahmen her und bannt sie auf Glas. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Seine Fotografien sind immer wieder der Versuch, das Wesen der Dinge zu ergründen. Sie sind Ausdruck seiner eigenen Metamorphose – wobei die Kämpfe in seinem Innern noch nicht endgültig ausgefochten sind. Sein Weg vom Kriegsreporter zum Fotografen der Stille ist noch nicht zu Ende. Bild in Detailansicht öffnen
Steffen Diemer  Fotografien
Womöglich liegt darin sein Frieden: Im stetigen Weitergehen: „Ich möchte mit dem, was ich mache, Meisterschaft erreichen. Das ist, was mich unermüdlich antreibt.“ (Steffen Diemer) Bild in Detailansicht öffnen

Ästhetisches Empfinden und visuelle Wirkung

Die Nassplatten-Kollodium-Fotografie besitzt eine ästhetische Wirkung, die sich bewusst gegen die Perfektion digitaler Bilder wendet. Ihre besondere Anmutung entsteht durch die charakteristische Schärfentiefe, die ungleichmäßigen Kanten und die feinen Nuancen in den Schwarz-Weiß-Tönen.

Oft entsteht ein nostalgisches, beinahe mystisches Empfinden, das auf Betrachterinnen und Betrachter emotional intensiv wirkt. Diese Fotografien wirken zeitlos und unmittelbar zugleich – sie laden in dieser rastlosen Zeit, in der wir leben, dazu ein, innezuhalten und genauer hinzusehen. 

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