- Befreiung aus industriellen Fesseln
- Barfüßig auf zu neuen geistigen Ufern
- Die nackte Wahrheit und der Jugendstil
- Lebensreform als Erziehung des Körpers
- Elitismus und Größenwahn
- Kommune und totalitäres Denken
Befreiung aus industriellen Fesseln

In einer Sache waren sich die Lebensreformer einig: Sie hielten die industrialisierte Gesellschaft für einen „Sumpf der Überzivilisation“, die „Natur“ dagegen für das „Große und Schöne“. So bilanzierte es später der reformerische Landwirt Gustav Adolf Küppers. Das Ziel: Raus aus den Sachzwängen, zurück zur Natur, zu Gesundheit, Landleben, Kommune, freier Kreativität.
Der Prophet des Sachzwangs tobte darüber, der Soziologe Max Weber. Eine „Romantik des Irrationalen“ sei das, schimpfte er in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von 1917. Er hatte nicht Unrecht. Die Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bundeskunsthalle in Bonn zeigt: Lust und Last der Lebensreform liegen eng beieinander.
Barfüßig auf zu neuen geistigen Ufern

Wie sollte die neue Freiheit aussehen? Der Münchner Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach bannte seine Vision auf den 68 Meter langen Wandfries „Per Aspera ad astra“. Ihn selbst sieht man dort, barfüßig und in Kutte gewandet, umgeben von glücklich herumtollenden Kindern.
Diefenbach fotografierte Licht- und Luftbäder des nackten Körpers und musste sich dafür im ersten Nudistenprozess der deutschen Geschichte vor Gericht verantworten. Er trat für Vegetarismus ein und sah in der Tötung von Tieren die Vorstufe zum Krieg. Der Maler wünschte sich den befreiten Menschen als fröhlich unbeschwertes Naturwesen.
Die nackte Wahrheit und der Jugendstil

Das Ja zur Natur wurde auch zum Motto der Kunst: Schluss mit den Motiven der Klassik. Weg mit dem Schwulst des Historismus. Jugendstil bedeutete, von der Vergangenheit genug zu haben. Die Gegenwart sollte endlich das Wort bekommen. Die Architektur wurde ornamental verspielt, Ausdruck unbegrenzter künstlerischer Freiheit.
Zu den deutlichsten Bekenntnissen dieser Art gehört die „nuda veritas“ von Gustav Klimt: die raumfüllende „nackte Wahrheit“, die Wappenfigur der Wiener Künstlervereinigung „Secession“. In der erhobenen rechten Hand hält die Aktfigur einen Spiegel, in dem sich die Betrachter selbst erkennen sollen.
Lebensreform als Erziehung des Körpers

Sich selbst zu entdecken hieß vor allem, den eigenen Körper zu entdecken. Rohkost und Bircher-Müsli sollten die Ernährung erden, Korsette nicht länger einzwängen, Naturheilverfahren die standardisierte Medizin ersetzen. Heinrich Pudor und Richard Ungewitter erfanden die FKK-Bewegung, die allerdings nicht auf sexuelle Befreiung, sondern körperliche Disziplinierung zielte.
Ganz ähnlich war auch die soldatisch anmutende Gymnastik der Amerikanerin Bess Mensendieck angelegt. Die Ärztin veröffentlichte sogar Nacktbilder von sich selbst, um die Fortschritte zu dokumentieren, die sich mit ihrem Training angeblich erzielen ließen.
Elitismus und Größenwahn

Eine Menge Elitismus steckte in den Strömungen der Lebensreform. Andere mochten in Sachzwängen gefesselt sein. Der zur Natur befreite Mensch dagegen verfügte scheinbar über Zugang zu höheren geistigen Regionen. Stefan George gründete die „Blätter für die Kunst“, später seinen elitären Dichterkreis. Schon 1898 malte ihn Sabine Lepsius als verklärten Visionär.
Andere solcher Visionäre folgten: In der Reformpädagogik Olga Essig, Franz Hilker und Paul Oestreich. Rudolf Steiner schließlich begründete die Anthroposophie. Seine einflussreiche esoterische Lehre sollte der Erkenntnis den Weg zu höheren Welten bahnen.
Kommune und totalitäres Denken

Viele der Lebensreformer taten sich in elitären Gemeinschaften zusammen, Kommunen auf dem Land, Schrebergärten und Gartenstädten. Bekannt wurden die Gemeinschaft auf dem „Monte Veritá“ bei Ascona und die Künstlerkolonie in Worpswede. Der Tänzer und Fotograf Johann Adam Meisenbach idealisierte das Leben der Kommune in seinen Fotoserien vom Lago Maggiore.
Elitismus, Körperkult und Naturmedizin legten allerdings auch totalitäre Keime. Die Nationalsozialisten verstanden die Lebensreform als Beitrag zur Leistungsfähigkeit und „rassischen“ Gesundheit des Volkes. Auch antisemitische Elemente finden sich. Der FKK-Aktivist Richard Ungewitter versprach sich von Nacktheit eine „gesunde Zuchtwahl“. „Lebensunwertes“ sollte von der Zeugung ausgeschlossen bleiben.
Das Jahrhundert der Lebensreform
Das wahre Leben im Falschen finden: das bleibt ein Dauerthema in der Moderne und Postmoderne. Die Lebensreform hat den Kulturpessimismus inspiriert, Aussteiger und Hippies, später die grüne Bewegung. Aber sie hat auch Irrlichter gesetzt, die ins Dunkle und Reaktionäre weisen. Die Lebensreform bleibt eine ambivalente Reform.