Para-Moderne in der Bundeskunsthalle Bonn

Rohkost, Jugendstil, FKK: Lust und Last der Lebensreform

Stand

Von Autor/in Wilm Hüffer

Um 1900 lautet die Frage: Ist der Mensch noch schöpferisches Zentrum seiner Welt oder ein Gefangener der Industrialisierung? Die Gegenbewegung der Lebensreform propagiert die Rückkehr zur Natur. Mit Esoterik und Körperkult legt sie aber auch den Keim für Antisemitismus und Rassismus.

Befreiung aus industriellen Fesseln

Gemälde des französischen Malers Ernest Jean Delahaye: Gaswerk von Courcelles, 1884
Das Feindbild der Lebensreformer: die „Überzivilisation“ der industrialisierten Welt. Ein Gemälde von Ernest Jean Delahaye von 1884, „Gaswerk von Courcelles“.

In einer Sache waren sich die Lebensreformer einig: Sie hielten die industrialisierte Gesellschaft für einen „Sumpf der Überzivilisation“, die „Natur“ dagegen für das „Große und Schöne“. So bilanzierte es später der reformerische Landwirt Gustav Adolf Küppers. Das Ziel: Raus aus den Sachzwängen, zurück zur Natur, zu Gesundheit, Landleben, Kommune, freier Kreativität.

Der Prophet des Sachzwangs tobte darüber, der Soziologe Max Weber. Eine „Romantik des Irrationalen“ sei das, schimpfte er in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von 1917. Er hatte nicht Unrecht. Die Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bundeskunsthalle in Bonn zeigt: Lust und Last der Lebensreform liegen eng beieinander.

Barfüßig auf zu neuen geistigen Ufern

Bild von Karl Wilhelm Diefenbach, Per Aspera ad Astra
Befreiung auf einem 68 Meter langen Wandfries: Die erste Szene aus „Per Aspera ad Astra“ von Karl Wilhelm Diefenbach von 1892

Wie sollte die neue Freiheit aussehen? Der Münchner Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach bannte seine Vision auf den 68 Meter langen Wandfries „Per Aspera ad astra“. Ihn selbst sieht man dort, barfüßig und in Kutte gewandet, umgeben von glücklich herumtollenden Kindern.

Diefenbach fotografierte Licht- und Luftbäder des nackten Körpers und musste sich dafür im ersten Nudistenprozess der deutschen Geschichte vor Gericht verantworten. Er trat für Vegetarismus ein und sah in der Tötung von Tieren die Vorstufe zum Krieg. Der Maler wünschte sich den befreiten Menschen als fröhlich unbeschwertes Naturwesen.

Die nackte Wahrheit und der Jugendstil

Gustav Klimt, Nuda Veritas (Detail-Ausschnitt), 1899
Das Haupt der „Nuda Veritas“ von Gustav Klimt von 1899, in der Hand den Spiegel der Selbsterkenntnis

Das Ja zur Natur wurde auch zum Motto der Kunst: Schluss mit den Motiven der Klassik. Weg mit dem Schwulst des Historismus. Jugendstil bedeutete, von der Vergangenheit genug zu haben. Die Gegenwart sollte endlich das Wort bekommen. Die Architektur wurde ornamental verspielt, Ausdruck unbegrenzter künstlerischer Freiheit.

Zu den deutlichsten Bekenntnissen dieser Art gehört die „nuda veritas“ von Gustav Klimt: die raumfüllende „nackte Wahrheit“, die Wappenfigur der Wiener Künstlervereinigung „Secession“. In der erhobenen rechten Hand hält die Aktfigur einen Spiegel, in dem sich die Betrachter selbst erkennen sollen.

Lebensreform als Erziehung des Körpers

Turnübungen nach Bess Mensendieck, Mensendieck-Schule, Oslo, 1956
Turnübungen nach Bess Mensendieck sollten den Körper fest und reproduktionsfähig machen. Eine Aufnahme eines Mensendieck-Trainings, 1956 in Oslo.

Sich selbst zu entdecken hieß vor allem, den eigenen Körper zu entdecken. Rohkost und Bircher-Müsli sollten die Ernährung erden, Korsette nicht länger einzwängen, Naturheilverfahren die standardisierte Medizin ersetzen. Heinrich Pudor und Richard Ungewitter erfanden die FKK-Bewegung, die allerdings nicht auf sexuelle Befreiung, sondern körperliche Disziplinierung zielte.

Ganz ähnlich war auch die soldatisch anmutende Gymnastik der Amerikanerin Bess Mensendieck angelegt. Die Ärztin veröffentlichte sogar Nacktbilder von sich selbst, um die Fortschritte zu dokumentieren, die sich mit ihrem Training angeblich erzielen ließen.

Elitismus und Größenwahn

Der Dichter Stefan George, Gemälde von Sabine Lepsius, 1898
Visionär der Visionäre: der Dichter Stefan George, 1898 gemalt von Sabine Lepsius

Eine Menge Elitismus steckte in den Strömungen der Lebensreform. Andere mochten in Sachzwängen gefesselt sein. Der zur Natur befreite Mensch dagegen verfügte scheinbar über Zugang zu höheren geistigen Regionen. Stefan George gründete die „Blätter für die Kunst“, später seinen elitären Dichterkreis. Schon 1898 malte ihn Sabine Lepsius als verklärten Visionär.

Andere solcher Visionäre folgten: In der Reformpädagogik Olga Essig, Franz Hilker und Paul Oestreich. Rudolf Steiner schließlich begründete die Anthroposophie. Seine einflussreiche esoterische Lehre sollte der Erkenntnis den Weg zu höheren Welten bahnen.

Kommune und totalitäres Denken

Johann Adam Meisenbach, Tanzende am Lago Maggiore bei Ascona (um Rudolf von Laban), Ausschnitt, 1914
Er porträtierte die Kommune: Johann Adam Meisenbach, Tanzende am Lago Maggiore bei Ascona (um Rudolf von Laban), um 1914.

Viele der Lebensreformer taten sich in elitären Gemeinschaften zusammen, Kommunen auf dem Land, Schrebergärten und Gartenstädten. Bekannt wurden die Gemeinschaft auf dem „Monte Veritá“ bei Ascona und die Künstlerkolonie in Worpswede. Der Tänzer und Fotograf Johann Adam Meisenbach idealisierte das Leben der Kommune in seinen Fotoserien vom Lago Maggiore.

Elitismus, Körperkult und Naturmedizin legten allerdings auch totalitäre Keime. Die Nationalsozialisten verstanden die Lebensreform als Beitrag zur Leistungsfähigkeit und „rassischen“ Gesundheit des Volkes. Auch antisemitische Elemente finden sich. Der FKK-Aktivist Richard Ungewitter versprach sich von Nacktheit eine „gesunde Zuchtwahl“. „Lebensunwertes“ sollte von der Zeugung ausgeschlossen bleiben.

Das Jahrhundert der Lebensreform

Das wahre Leben im Falschen finden: das bleibt ein Dauerthema in der Moderne und Postmoderne. Die Lebensreform hat den Kulturpessimismus inspiriert, Aussteiger und Hippies, später die grüne Bewegung. Aber sie hat auch Irrlichter gesetzt, die ins Dunkle und Reaktionäre weisen. Die Lebensreform bleibt eine ambivalente Reform.

Porträt zum 150. Geburtstag Heinrich Vogeler – Worpsweder Jugendstil-Künstler und politischer Aktivist

Jugendstil-Künstler Heinrich Vogeler (1872 - 1942) hat den Mythos von Worpswede mitgeprägt. Er wollte die Welt verbessern. Als ihm die Kunst dafür nicht reichte, wurde er politisch aktiv.

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Philosophie Hans Jonas und die Ethik der Verantwortung

In "Das Prinzip Verantwortung" kritisiert Hans Jonas die schonungslose Ausbeutung unseres Planeten. Die Klimakrise und "Fridays for Future" machen seine Gedanken heute wieder aktuell.

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