Zwischen Autobiografie und Schauspiel

Mainzer Stadtschreiberin: „Er spielt auf jeden Fall die echte Julia Schoch“

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Autor/in
Christian Batzlen
Christian Batzlen, Moderator SWR Kultur

Die Autorin Julia Schoch hat sich für ein Selbstporträt von „Tatort“-Kommissar Jörg Hartmann spielen lassen. Ist das nun ein Selbstbildnis auf Distanz – oder ein fiktionaler Zugang zu sich selbst?

Die scheidende Mainzer Stadtschreiberin Julia Schoch hat für ihren Abschiedsfilm von der Stadt ein bemerkenswertes Konzept gewählt: Der halbstündige Film „Bitte um Rückruf – Interview mit einer Schriftstellerin“, zu sehen in der ZDF-Mediathek, ist ein literarisches Selbstporträt – vermittelt durch einen Schauspieler.

Gedreht wurde in Schochs Wahlheimat Potsdam. Der Dortmunder „Tatort“-Kommissar Jörg Hartmann, schlüpft in einer fiktiven Interviewsituation in die Rolle der realen Autorin. Ein Porträt also, bei dem die Porträtierte lediglich gespielt wird.

Das Interview als Schauspiel?

„In einem Fernsehinterview Auskunft über mich als Künstlerin zu geben, ist nicht leicht”, so Julia Schoch im Interview mit SWR Kultur. Man öffne sich, gebe etwas von sich preis, gleichzeitig trage man eine Maske.

Weil für sie Interviews vor der Kamera wie Schauspielen sei, habe sie direkt lieber einen Schauspieler genommen. Doch wie echt ist es, wenn ein anderer einem seine Stimme und seine Mimik leiht? „Er spielt auf jeden Fall die echte Julia Schoch, was auch immer das heißt“, betont die Autorin.

Was für ein Kind ich war? Impulsiv. Kreativität hatte mich gerettet vor dem Trott und der Langeweile. Wusste, Leben in der DDR wird langweilig. In der Provinz lebt man abgeschieden. Sprache der Literatur hat mich von der Sprache der Realität befreit.

Wie Hartmann aus der Ich-Perspektive erzählt, schafft Distanz zu ihrer Geschichte und ihren Antworten. Hartmann habe zwar eine ganz andere Herkunft und Vita als sie, sei ihr aber vom Typ dennoch ähnlich. Der Autorin war dennoch wichtig, dass sie jemand spiele, der nicht als Doppelgänger gelesen werden könne, erklärt sie weiter.

Ein Grund dafür, einen Schauspieler statt einer Schauspielerin zu wählen? Die Wahl eines Mannes bringe noch eine weitere Dimension ins Spiel: die Dekonstruktion von Geschlechterbildern. Sie zwingt so das Publikum, sich zu fragen, wo die Grenze zwischen Repräsentation und Realität liegt und wie wir Geschlecht und Identität wahrnehmen.

Julia Schoch spricht in ein Mikro
Im Jahr 2024 war Julia Schoch die Mainzer Stadtschreiberin. "Als poetische und emotionale Erinnerungslandschaft erzählt sie Kindheit, Liebe und Familie im besonderen Kontext deutscher Geschichte", hieß es damals in der Jurybegründung. Ihre literarischen Konstruktionen machen sie zu einer der wichtigsten Stimmen der modernen deutschen Literatur.

Hommage an frühere Fernsehformate

Der Film soll auch eine Hommage an die Fernsehformate aus den Sechziger- und Siebzigerjahren sein. Schoch mag die alten Interviewformen, in denen beispielsweise der Theaterkritiker Friedrich Luft ungeschnitten eine halbe oder ganze Stunde erzählen konnte.

„Es mag nicht mehr dem heutigen Zeitgeist entsprechen, dass jemand fünf Minuten am Stück interessant spricht”, sagt sie. Dabei höre man doch gern zu.

Durch die Wahl dieser Inszenierungsform hinterfragt Schoch also auch Mechanismen der heutigen Medienlandschaft: Weg von schnellen Schnitten, hin zur konzentrierten und langen Betrachtung eines Menschen.

Autobiografie oder Autofiktion?

Julia Schoch ist bekannt für ihre Prosa, in der die Grenzen zwischen Erlebtem und Erdachtem stets fließend sind. Ihre Romane liegen zwischen Erinnerung und Fiktion, zwischen Geständnis und Konstruktion.

Auch in ihrem gerade erschienenen Roman Wild nach einem wilden Traum gibt es Elemente der Autofiktion, jenem literarische Zwischenreich, in dem mit autobiografischen Elementen gespielt wird.

Im dritten Teil ihrer Trilogie gerät eine Frau nun durch eine Affäre in eine Sinnkrise, gern möchte sie ihr Leben dem Schreiben widmen. Die Ich-Erzählerin hat einige Gemeinsamkeiten mit der Autorin: Beispielsweise ist sie ebenfalls als Offizierstochter in einer Garnisonsstadt am Stettiner Haff aufgewachsen.

Eine Reflexion über Selbstinszenierung

Der Film führt dieses Spiel weiter: Ist das nun ein Selbstporträt auf Distanz – oder vielleicht sogar ein autofiktionaler Zugang zu sich selbst?

Julia Schoch spielt in ihrem Film vor allem mit Selbstbildern und verdeutlicht, dass eine objektive Selbstbeschreibung kaum möglich ist. Die Zuschauer sehen hier eine bestimmte Version von ihr. Es bleibe für sie immer Schauspiel, wenn Kameras laufen.

Bitte um Rückruf“ beantwortet damit weniger die Frage nach dem „wahren Ich“, sondern reflektiert über die Möglichkeiten seiner Darstellung.

Platz 3 (76 Punkte) Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum.

Der Abschluss der Romantrilogie „Biographie einer Frau“. Während eines USA-Stipendiums verliebt die Erzählerin sich in einen Mitstipendiaten. Julia Schoch macht daraus eine große Reflexion über Herkunft, Prägung und Schreiben

Neuer Roman „Wild nach einem wilden Traum“ Julia Schoch blickt zurück auf ihre Zeit als Mainzer Stadtschreiberin

Die Schriftstellerin Julia Schoch legt zum Abschluss ihrer Zeit als Stadtschreiberin der Stadt Mainz einen neuen Roman vor: „Wild nach einem wilden Traum". Es ist gleichzeitig der Abschluss der autofiktionalen Trilogie „Biographie einer Frau" über eine Schriftstellerin. In dem Buch geht es um eine wilde Liebesaffäre, aber auch um literarisches Schreiben und wie sich darin Erleben und Erinnern gegenseitig beeinflussen.
Schreiben aus der Erinnerung
Julia Schoch notiert ihre Erlebnisse nicht dokumentarisch. Ihr ist es wichtig, dass zwischen dem Erleben und dem Schreiben über ein Ereignis ausreichend Zeit vergeht: „Das ist für mich ein Prozess, der sehr lange dauert. Erst die Erinnerung zeigt eigentlich, was erzählenswürdig ist. Und das entspricht natürlich nie der dokumentarischen Wirklichkeit." Für Julia Schoch ist das Vergessen eine Voraussetzung dafür, Geschichten neu erfinden zu können.
Film zum Buch
Das ZDF hat einen Film über Julia Schoch und das Ende ihrer Zeit als Stadtschreiberin produziert. dafür hat die Autorin ein Interview mit sich selbst geschrieben. Dabei spielt der Tatort–Darsteller Jörg Hartmann die Autorin. „Vor der Kamera in einem Interview fängt man ja automatisch an zu schauspielern. Da habe ich mir gedacht, ich nehme gleich jemanden, der das kann".

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Diskussion über vier Bücher SWR Bestenliste Februar mit Büchern von Samantha Harvey, Julia Schoch, Jonas Lüscher und Wolf Haas

Über den Wolken und durch die Jahrhunderte: Meike Feßmann, Julia Schröder und Paul Jandl diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Februar verzeichnete Werke, die von berauschenden und bedrückenden Reisen handeln. Zunächst ging es um den mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Umlaufbahnen“ von Samantha Harvey in der deutschen Fassung von Julia Wolf, in dem sechs Astronauten auf einer Raumstation durchs Weltall schweben und ihr Verhältnis zur bedrohten Mutter Erde neu justieren (Platz 4).
Besprochen wurde in der ausverkauften Mediathek in Bühl Julia Schochs Abschluss ihrer Trilogie, die mit „Biographie einer Frau“ überschrieben ist und auf Platz 3 der Februar-Bestenliste steht: Nach „Das Vorkommnis“ und „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ heißt der dritte Teil der autofiktionalen Romanreihe „Wild nach einem wilden Traum“, in welchem es um die Erinnerung an eine Affäre und die Entscheidung der Erzählerin geht, Schriftstellerin zu werden.
Auf Platz 2 wird auf der Bestenliste im Februar der neue und vieldiskutierte Roman von Jonas Lüscher gelistet: „Verzauberte Vorbestimmung“ heißt das Werk, das einerseits ein Post-Covid-Roman ist und andererseits das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine in unterschiedlichsten Epochen reflektiert.
Der Spitzenreiter der Bestenliste im Februar ist der neue Roman „Wackelkontakt“ von Wolf Haas. Darin wird zunächst von einem Trauerredner namens Franz Escher erzählt, der auf einen Elektriker wartet und einen Roman über einen Mafioso liest. Schon bald geht es aber auch um einen Mann im Zeugenschutzprogramm, der sich die Zeit mit einem Buch vertreibt, in dem wiederum der Trauerredner Escher auf den Elektriker wartet. Der Text ist ein Prosa-Labyrinth, das an die unmöglichen und unendlichen Gemälde des niederländischen Grafikers M.C. Escher erinnert. Jury und Publikum waren gleichermaßen amüsiert.
Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.

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