Ausstellung

„Wir müssen uns wahnsinnig beeilen“: Virtual-Reality-Projekt ermöglicht die Begegnung mit den letzten Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus

Stand
Autor/in
Simone Reber

„Es gibt ein superkleines Zeitfenster, in dem noch Holocaust-Überlebende ihre Geschichte erzählen können“, sagt Christian Zipfel. Mit Hilfe von VR-Brillen ermöglicht das Projekt „In Echt?“ die authentische Begegnung mit Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus – im virtuellen Raum. In einer mobilen Ausstellung kann man das erleben.

VR-Brille lässt Zeitzeugen berichten

Vor dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte steht ein aufblasbares Zelt. Darin liegen auf schlichten Holztischen weiße VR-Brillen. Sie sehen aus wie Taucherbrillen.

Wenn man sie aufsetzt, erscheinen vor den Augen die Porträts von fünf Überlebenden des Holocaust. Dazu jeweils zwei Fragen. Zum Beispiel: Wie haben Sie das Novemberpogrom erlebt?

„Es war grausig mit anzusehen“

Schaut man mit der Brille direkt auf diese Frage, sieht man Ruth Winkelmann. Am 10. November 1938 fuhr sie mit ihrer Familie im Auto durch Berlin.

Sie schildert, wie SA-Leute einen Juden mit Schläfenlocken packten und ihn mit einem David-Stern beschmierten. „Man muss sich mal vorstellen, wie dieser Mann sich fühlte, der in den Fängen von diesen SA Männern war“, sagt Ruth Winkelmann. „Es war für uns grausig mit anzusehen.“

Ruth Winkelmann überlebte in einem Versteck 

Ruth Winkelmann sieht in der virtuellen Realität genauso aus wie im richtigen Leben. Die ehemalige Schneiderin und Schwimmlehrerin ist persönlich zur Präsentation des Projektes „In Echt?“ gekommen.

Sie konnte erst von ihren Erlebnissen erzählen, als sie über siebzig Jahre alt war. Ihr Vater war Jude und wurde in Auschwitz ermordet. Sie selbst überlebte in Berlin in einem Versteck.

„Wir müssen uns wahnsinnig beeilen“

Inzwischen hat Ruth Winkelmann ihre Erinnerungen in dem Buch „Plötzlich hieß ich Sara“ aufgeschrieben. Bald wird sie 95 Jahre alt, sie kann noch Vorträge halten, Lesen fällt ihr schwer.

„Es gibt ein superkleines Zeitfenster, in dem noch Holocaust Überlebende ihre Geschichte erzählen können und es gleichzeitig die technische Möglichkeit gibt, volometrische Videos zu erstellen“, sagt Christian Zipfel, der künstlerische Leiter des Projekts „In Echt?“. „Was wir jetzt nicht drehen, das wird es nie geben. Wir müssen uns wahnsinnig beeilen.“

Begegnungen wirken erstaunlich persönlich

Christian Zipfel wollte die Produktion der Interviews transparent machen. Wie im volometrischen Studio der Filmhochschule Babelsberg, wo die Filme entstanden sind, sitzen die Zeitzeugen in der Installation vor einem neutralen weißen Hintergrund.

Die virtuelle Begegnung wirkt erstaunlich präsent und sehr persönlich. Ruth Winkelmann fand die Aufnahmetechnik faszinierend: „Man spricht ja nicht nur mit der Sprache, man spricht mit dem ganzen Körper.“

Junge Menschen mit Technik locken

Natürlich soll auch das Medium die Neugier wecken, sagt Projektleiterin Johanna Schüller. Sie begleitet mit Workshops die Wirkung der virtuellen Realität.

„Wir merken, dass die jungen Menschen eine VR-Kamera sehen und neugierig sind: Was ist das für eine Technik? Ich möchte die gerne ausprobieren.“

Die Neugier mag zum reinschauen verleiten. Dann aber entwickeln die Erzählungen der fünf Überlebenden ihre eigene Intensität.

Verantwortung für die Zukunft

„Was möchten Sie an die nächste Generation weitergeben?“, lautet eine Frage. In der virtuellen Realität beugt sich der Zeitzeuge Kurt Hillmann weit vor und sagt:

„Die jungen Leute haben keine Verantwortung dafür, was geschehen ist. Sie haben aber eine riesen Verantwortung zu verhüten, dass sich so etwas nicht wiederholt.“

Erinnerung und Zeugnis

Leben Was bleibt – Zilli Schmidts Vermächtnis

Die letzten Zeitzeugen des Holocaust sterben. Wie die Sintezza Zilli Schmidt. In einem Wettlauf gegen die Zeit haben Historikerinnen versucht, ihre Erfahrungen für die Nachwelt zu bewahren.

SWR2 Leben SWR2

Leben Das Leben als Überlebende - Margot Friedlander lässt die Deutschen nicht vergessen

Eine der letzten Zeitzeugen des Holocaustfeiert am 5. November 2020 ihren 99. Geburtstag. Margot Friedlander ist 1921 in Berlin geboren und bleibt bis ins hohe Alter aktiv. (SWR 2017)

SWR2 Leben SWR2

Erinnerungskultur Holocaust-Gedenken – Wie Jugendliche das Erinnern lernen

Zeitzeugen, die von ihrer Geschichte erzählen könnten, gibt es bald nicht mehr. Doch Gedenkstättenbesuche sind für Schulklassen oft nur öde Pflichtbesuche. Wie vermittelt man Jugendlichen den Holocaust?

SWR2 Wissen SWR2

Holocaust-Gedenken Michel Friedman fordert neue Erinnerungskultur: „Deutschland war lange ein Schweigeland“

In einer Zeit, in der immer mehr Zeitzeugen des Holocausts sterben, wirbt der Publizist Michel Friedman, selbst Kind von Shoa-Überlebenden, für ein neues Erinnern an das Grauen der NS-Zeit. Denn Deutschland sei „zu lange ein Schweigeland gewesen“, sagt Friedman im SWR2 Gespräch.

SWR2 am Morgen SWR2

Gespräch Max Czollek: „Fall Aiwanger zeigt die Kontinuität von Antisemitismus in Deutschland“

Die Diskussion um Hubert Aiwanger würde so geführt, als sei das Flugblatt eine Jugendsünde „und damit entschuldigt“, anstatt den Antisemitismus anzuprangern.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Stand
Autor/in
Simone Reber