Malerei als Raumereignis

Katharina Grosse: Wenn sich Zeit in Farbe auflöst

Stand

Von Autor/in Christian Batzlen

Die Freiburger Künstlerin Katharina Grosse verschiebt mit ihren monumentalen Werken die Grenzen der Malerei. Mit Sprühpistole statt Pinsel verwandelt sie dabei Räume in Bilder und macht satte Farben zur erfahrbaren Kraft. Ihre Arbeiten sind abstrakt, vergänglich – und radikal zeitgenössisch.

Wenn Farbe den Raum übernimmt

Wenn Katharina Grosse malt, verändert sich der Raum. Die Farben entfalten sich neu – und mit ihnen unsere Vorstellung davon, was Malerei sein kann. Seit den 1990er-Jahren macht Grosse mit großflächigen Farbinterventionen auf sich aufmerksam, die sich über architektonische Flächen, Natur und Objekte hinwegziehen. Ihre Werke sind keine Bilder im klassischen Sinne, sondern eher begehbare Situationen.

Katharina Grosse: Ausstellung in Stuttgart

Die Farbe ist im Zentrum

In Grosses Kunst dreht sich alles um die Farbe. Sie sei ihr „Zentrum“, betont sie immer wieder. Ihre Werke sind radikal abstrakt: Keine Figuren, keine erzählerischen Motive lenken ab – stattdessen pure, leuchtende Farbverläufe, Sprühnebel, Schichten, Spuren.

Sie nutzt das gesamte Farbspektrum, bevorzugt aber kühlere Töne, weil diese schärfer und leuchtender wirken. Oft überlagern sich die Farbschichten.

Zeit und Abfolge lösen sich dabei auf. „Die unterschiedlichen Farbereignisse verschmelzen zu einem Zeit-Cluster“, erklärte sie in einem Interview mit dem Kunstmagazin Monopol. So würde die Idee von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwinden und eine Gleichzeitigkeit im gemalten Bild entstehen.

Für Grosse ist die Malerei damit kein fertiges Bild, sondern ein Prozess. Es ist ein Dialog zwischen Farbe und Raum und jede einzelne Spur zeugt davon.

Besucher durch eine Installation mit bunten Stoffen.
Über 8.000 Quadratmeter bunt bemalter Stoff: Besucher der Ausstellung „The Horse Trotted Another Couple of Metres, Then It Stopped“ von Carriageworks in Sydney, gehen im Jahr 2018 durch die Installation mit bunten Stoffen.

Malen als körperliche Erfahrung

Schon früh lernte sie, Raum und Bewegung zusammenzudenken. Als Jugendliche durfte sie Aufführungen der Tanz-Ikone Pina Bausch besuchen und beobachtete fasziniert, wie die Choreografin mit wirbelndem Haar und spritzendem Wasser den gesamten Raum aktivierte. Eine prägende Erfahrung, die sich in ihrer Technik wiederfindet.

Großformate, kraftvolle Gesten, Bewegung: Katharina Grosse arbeitet mit einer Sprühpistole, wie sie in der Industrie verwendet wird. Mit der Spraytechnik schafft sie so deutlich größere Radien als es ihre Armlängen sonst hergeben würden. So ließe sich die Distanz zu dem Ort, an dem sie sein möchte, überbrücken, erklärte sie im Tagesspiegel-Interview. „Ich gucke dahin – und bin dann auch dort.“

Kunstwerke in der Düsseldorfer Kunstakademie
2021. Akademie-Rungang der Düsseldorfer Kunstakademie, an der Grosse zuerst studierte und später viele Jahre als Professorin arbeitete. Längst genießt sie auch bei jungen Künstlern Kultstatus als jene Malerin, die die Leinwand hinter sich ließ.

Internationale Resonanz

Katharina Grosse gehört zu den international einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart. Die Werke der 1961 geborenen Künstlerin waren auf Biennalen weltweit präsent – etwa in Sydney, Venedig und New Orleans – und wurden unter anderem im MoMA New York und im Centre Pompidou-Metz ausgestellt. Das MoMA nahm eines ihrer Werke in die Sammlung auf.

Für ihr Schaffen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Fred-Thieler-Preis (2003) und den Oskar-Schlemmer-Preis (2014). 2010 wurde sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Als Professorin lehrte sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und bis 2018 an der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre kompromisslose Vision und ihre Lust an der Farbe prägen zahlreiche Künstler*innen.

Kirchengebäude St. Agnes in Kreuzberg der Galerie Johann König
Das katholische Kirchengebäude St. Agnes in Kreuzberg der Galerie Johann König. Lange war hier Katharina Grosse vertreten, bis Diskussionen um dessen Verhalten gegenüber Frauen laut wurden. Mittlerweils ist Grosse beim Malerei-Förderer Max Hetzler.

Leben und Arbeiten zwischen Stadt und Land

Die gebürtige Freiburgerin lebt heute in Berlin-Friedrichshain, in einem alten Konsumgebäude, das sie zu ihrem Wohnhaus umbaute. In Moabit ließ sie sich 2008 zudem von Augustin und Frank Architekten ein Atelierhaus errichten. Die unregelmäßig über die Betonfassade verteilten Fenster verleihen dem Gebäude eine skulpturale Note. In diesem Haus und den angrenzenden Räumen arbeitet ihr Team.

Und auch in Brandenburg ist sie aktiv. Im Südwesten des Bundeslandes hat sie auf einem sechs Hektar großen Gelände einer ehemaligen LPG die Wunderblock Stiftung gegründet. Ziel der Stiftung ist es, „unser Verständnis von Malerei zu erweitern und zu vertiefen“. Fernab urbaner Kontexte soll dies ein Ort für Forschung, Austausch und künstlerische Produktion sein.

Kunstwerke von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof in Berlin
Kunstausstellung „It Wasn’t Us“ von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Berlin (2021). Bild in Detailansicht öffnen
Kunstwerke von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof in Berlin
Begehrbare Gemälde: Katharina Grosses Werke beschränken sich nicht auf Leinwände. Bild in Detailansicht öffnen
Kunstwerke von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof in Berlin
Katharina Grosses Werke sind flüchtig: Nach der Ausstellung werden die Farben entfernt. Bild in Detailansicht öffnen
Kunstwerke von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof in Berlin
Katharina Grosses Kunst soll sich in die Landschaft und Umgebung einfügen. Bild in Detailansicht öffnen
Kunstwerke von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof in Berlin
Überwältigende Farben: Besucheri*nnen im Hamburger Bahnhof in Berlin. Bild in Detailansicht öffnen

Malerei als Raumereignis

Indem Grosse ganze Umgebungen bemalt, entgrenzt sie die Malerei und führt sie in den realen Raum über. Früher malten Künstler Landschaften auf Leinwand – Grosse dagegen malt direkt in die Landschaft hinein.

In der Arbeit „Rockaway!“ (2016) etwa überzog sie die Ruine eines vom Hurrikan Sandy zerstörten Strandhauses in New York mit grellroter Farbe, die sich über Sand und Trümmer auszubreiten schien.

Angesprühtes Haus am Strand
Das Werk „Rockaway!“ in New York hat sich zum Hit in den sozialen Medien entwickelt, vor allem natürlich bei Instagram. Die Werke von Katharina Grosse bedienen diesen Zeitgeist ideal.

Solche Eingriffe erzeugen Irritationen der Wahrnehmung. Der Boden, die Wände, selbst Bäume erscheinen plötzlich wie Teil eines einzigen Gemäldes. Ihre Malerei überlagert diese Orte und verhandelt sie neu. Dabei stellt sie die grundsätzliche Frage: Wo kann Malerei stattfinden? Und was ist ein Bild heute noch?

Was ihre Kunst so zeitgenössisch macht

Großflächige Arbeiten spiegeln eine Welt ohne feste Konturen – räumlich, medial, gesellschaftlich. Ihre Malerei ist offen und ortsbezogen. Zeitgenössisch ist dabei ihr Umgang mit Wahrnehmung: Statt auf Reduktion setzt sie auf Überwältigung – als bewusster Gegenentwurf zur flüchtigen digitalen Bildkultur. Ihre Werke sind Erlebnisse, die den Blick weiten und den Körper mit einbeziehen.

Viele ihrer flächigen Werke existieren nur für die Dauer einer Ausstellung. Danach werden sie übermalt oder abgebaut. Malerei also als Momentaufnahme. Als Ereignis, nicht als Objekt. Als Prozess, nicht als Produkt. Als Versuch, das Flüchtige sichtbar zu machen – genau darin liegt ihre radikale Zeitgenossenschaft.

Die Kraft analoger Farbe

Grosse nutzt Farbe als Mittel, um den Raum zu verändern. Aber auch, um Wahrnehmung zu überlisten. Ihre Arbeiten lassen sich nicht auf einen Blick erfassen. Sie entziehen sich. Ihre Kunst ist eine Einladung. Zum Schauen. Zum Staunen. Zum Denken in Farbe.

In einer Zeit, in der Bilder allgegenwärtig und schnell konsumierbar sind, schafft Grosse Werke, die sich dem entziehen. Ihre Malerei verlangt Zeit, Aufmerksamkeit und Offenheit. Und sie belohnt die Besuchenden mit einer Erfahrung, die der Alltag selten bietet: eine überwältigende Kraft analoger Farbe.

Ausstellung Groß, grösser, Grosse – Monumentale Farbräume von Katharina Grosse in Stuttgart

Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt Werke der Berliner Künstlerin Katharina Grosse. Ihr Markenzeichen sind knallbunte Farbflächen, die sie mit Lackierpistolen über ganze Räume hinweg ausbreitet – Malerei, die den üblichen Rahmen von Kunst weit überschreitet.
Mehr zu Katharina Grosse:
https://www.swr.de/swrkultur/kunst-und-ausstellung/katharina-grosse-im-portraet-wenn-sich-zeit-in-farbe-aufloest-100.html

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Staatsgalerie Stuttgart Malerei ohne malen – Die Künstlerin Katharina Grosse in Stuttgart

Malerei dreidimensional – Die Künstlerin Katharina Grosse greift im Auftrag der Staatsgalerie Stuttgart zur Spraypistole und erobert sich das Kunstgebäude.

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