Björn SC Deigner, Jahrgang 1983, eignet sich einen Text aus dem literarischen Kanon an. "Der Großinquisitor" ist ein als mit "Phantasie" benanntes Kapitel aus Dostojewskis 1880 erschienenen Roman "Die Brüder Karamasow". Wie Franz Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" aus seinem Roman "Der Prozess" wurde dieser Text vielfach rezipiert und selbst so unterschiedliche Schriftsteller wie George Tabori oder David Foster Wallace haben sich immer wieder auf ihn bezogen. Verkürzt geht es um die Frage, ob die katholische Kirche zurzeit der spanischen Inquisition Jesus Christus willkommen heißen würde, wenn er leibhaftig wieder auf Erden erschiene und seine Botschaft des neuen Testaments verkünden wollte. Ist es nicht besser, ihn zu inhaftieren oder fortzuschicken, um die allgemeine Ordnung und den Frieden, der weniger Opfer als Krieg kostet, zu wahren?
Deigner nähert sich Dostojewskis Text, ohne vorschnell zu aktualisieren. Er richtet seinen Blick verstärkt auf die Frage nach der Funktion nicht nur kirchlicher Eliten, die angeblich darum wissen, dass das Volk die Wahrheit nicht erträgt, sowie auf selbsternannte Heilsbringer, die überall die Macht der Verschwörung zu erkennen meinen. Bezüge auch zum Russland Putins vor dem Ukraine-Krieg können bei Bedarf gezogen werden.
Was bedeuten Eliten in unserer Gesellschaft? Wäre es nicht besser, ein einfacher Glaubender zu sein als ein hoffnungsloser Zweifler? Und wer hatte am Ende recht: Jesus oder der Andere, der den Störenfried aus kluger wie humaner Staatsräson wegsperrt? Deigners „Phantasie auf den Großinquisitor“ legt den Text in eine musikalische Landschaft und erforscht ihn bewusst über eine weibliche Stimme.
„Texte wie ‚Der Großinquisitor‘ formulieren eine Gültigkeit, die fortwährend Bestand hat: man kann immer wieder auf sie zugreifen; und unsere Realität, unsere Leben aktualisiert sich sozusagen an ihnen, nicht umgekehrt. Mit heutiger Sprache und heutigem Blick diese Themen aufzugreifen, sie weiterzuführen, zu kondensieren, das war auch ein sehr lehrreicher Prozess für mich beim Schreiben.“
Mit: Valery Tscheplanowa
Musik und Regie: Björn SC Deigner
Produktion: SWR 2021