Achtzig Jahre sind vergangen, seit Deutschland kapitulierte. Und mit jedem Jahr werden diejenigen, die die Shoah überlebten, diejenigen, die von den Gräueln berichten können, weniger. Bald wird die Aufgabe des Gedenkens vollständig an die Nachfolgegenerationen übergehen – und darüber, wie dieses Gedenken aussehen soll, wird seit Jahrzehnten diskutiert.
Während sich hierzulande gern auf die historischen Ereignisse und Zeugnisse aus dem Dritten Reich konzentriert wird, werden die Geschichten der ermordeten Juden, der Überlebenden und ihrer Nachkommen oft ignoriert. Das mag auch daran liegen, dass die wenigen Überlebenden auswanderten.
Gedenktag am 27. Januar 2025 80 Jahre nach Auschwitz: Literatur als Mahnung und Erinnerung
Paul Celan, Cordelia Edvardson oder Imre Kertész halten die Erinnerung an die Shoah wach – eine Mahnung gegen das Vergessen in einer Welt voller neuer Gefahren.
Wie das Trauma der Shoah ihre Leben und ihre Familien beeinflusste, sind Geschichten, die ihre Nachkommen in den Vereinigten Staaten, Israel, Australien oder anderen Ländern erzählen.
Nachfolgegeneration im Fokus
Zuletzt erschienen einige Filme, die sich vor allem mit den Auswirkungen der Shoah auf die Kinder und Kindeskinder beschäftigten. 2024 erschienen zwei Spielfilme: „A Real Pain“, in dem zwei unterschiedlichen Cousins nach dem Tod ihrer Großmutter im gegenwärtigen Polen auf Spurensuche gehen; und „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“, in dem Vater und Tochter ins postsowjetische Polen reisen, um ihre Familiengeschichte zu ergründen.
Letztes Jahr „Der Schatten des Kommandanten“ von Daniela Völker, in der sich Nachfolgegenerationen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und die der Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch begegnen. 2023 erschien die Dokumentation „Occupied City“ von Steve McQueen, die ohne historisches Bildmaterial, Zeitzeugen oder Experten vom besetzten Amsterdam erzählt.
Enkel auf der Suche: „A Real Pain“

In „A Real Pain“ finden sich die Cousins David und Benji zusammen, die aus den Vereinigten Staaten nach Polen reisen. Gemeinsam mit einer Jewish-Heritage-Gruppe besichtigen sie Orte jüdischer Geschichte, um schließlich zu zweit das Haus ihrer verstorbenen Großmutter aufzusuchen, die einst aus dem Land floh.
Die Reise bringt die einstigen Kindheitsfreunde als junge Männer verschiedener Temperamente zusammen: David (Jesse Eisenberg), ein junger Vater, strukturiert und neurotisch. Benji (Kieran Culkin) ein Hänger, charismatisch und launisch.
„A Real Pain“ erzählt von der komplizierten Beziehung der beiden zueinander, und den Versuchen, der Vergangenheit angemessen zu begegnen: Eine albern-anrührende Nachstellung der Reisegruppe am Denkmal des Warschauer Aufstandes, der wortlose Einblick in die Gaskammer des Konzentrationslagers Majdanek außerhalb von Lublin, die bemühten Erklärungen des nichtjüdischen Tourguides.
„Sieht denn niemand die Ironie?“, fragt Benji die Gruppe laut, die in einem Erste-Klasse-Waggon reist. „Vor 80 Jahren wären wir in einen Viehwaggon gepfercht worden!“
Eisenberg, selbst Nachkomme von Holocaustüberlebenden, führte Regie und schrieb das Drehbuch. In einer Szene wird über die Nöte ausgewanderter Juden gesprochen: Wie die erste Generation mühsam Fuß fassen musste, die zweite erfolgreich glänzte und die dritte ihr Privileg nicht wertschätzen kann – und voller Fragen und auf die Leben vor ihnen blickt. „A Real Pain“ bleibt bei der Enkelgeneration und spürt nach, wie sich das Trauma auf diese auswirkt.
Der eigentliche Anlass für die Reise wird erst später deutlich: Benji hat einen Suizidversuch hinter sich, ein Weckruf für David, ihn wiederzusehen. Sein Cousin erzählt, wie eng er mit seiner Großmutter war, dass sie die einzige war, die ihm auf Spur bringen konnte. Der Film deutet so an, wie Trauma sich vererbt – und wie es verbindet.
Vater-Tochter-Roadtrip: „Treaure – Familie ist ein fremdes Land“

Es ist das Jahr 1991 und die Journalistin Ruth (Lena Dunham) plant eine Reise nach Polen. Ihr Vater Edek (Stephen Fry) hat, ebenso wie Ruths Mutter, Auschwitz überlebt. Er besteht darauf, sie zu begleiten – nicht weil er unbedingt in das Land zurück will, in dem er fast ermordet worden wäre, sondern aus Sorge um seine Tochter.
Klar ist: Mit dem Zug möchte er nicht reisen – Ruth wird erst angesichts der Schienen in Auschwitz verstehen, warum. Und so entspinnt sich in dem Film der deutschen Regisseurin Julia von Heinz ein Vater-Tochter-Roadtrip durch ein postsowjetisches Polen.
Die Dynamik der beiden bewegt sich, ähnlich wie in „A Real Pain“, zwischen der Ernsthaftigkeit der Tochter, die gar verbissen ihre strukturierte Suche nach Antworten verfolgen will, und der Sorglosigkeit des Vaters, der als allzu spendabler Mann in das Land seiner Peiniger zurückkehrt. Am Frühstückstisch macht er sich lustig über „Heritage Tours“ – und er versteht nicht, was die Tochter in Europa sucht: Amerika sei doch ihre Heimat.
Der Film rührt damit an das zentrale Heimkehrmotiv, das die Literaturwissenschaftlerin Sara R. Horowitz als „Sehnsucht“ der Nachfolgegeneration nach einer „unmöglichen ‚Rückkehr‘ in das Europa der Vergangenheit“ beschreibt.
Im Film wird Ruth fündig werden, und auch Edek wird unerwartet etwas wiederfinden, was er längst verloren glaubte. „Treasure“ bleibt damit aber im nostalgischen, allzu versöhnlichen Modus verhaftet, der zwar rührt, aber in seiner filmischen Umsetzung austauschbar wirkt.
Der Film basiert auf dem Roman „Zu viele Männer“ der australischen Autorin Lily Brett. Im Buch hat sie ein fiktives Gespräch mit dem Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß eingebaut, das es im Film nicht gibt. Höß ist zuletzt in Filmen eine zentrale Figur zur Aushandlung geworden.
Überlebende und Täterfamilie: „Im Schatten des Kommandanten“

Der vielfach prämierte Film „The Zone of Interest“ (2023) von Jonathan Glazer zeigt das Familienleben des Kommandanten von Auschwitz, das er und seine Frau Hedwig direkt neben dem Konzentrationslager führten. Die Geräusche des Massenmords sind von der anderen Seite der Lagermauer zu hören, während ihre Kinder im Garten spielen.
Eines dieser Kinder war Hans-Jürgen Höss. Im Dokumentarfilm „Im Schatten des Kommandanten“ wird er auf die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch treffen; eine Begegnung, die durch ihre jeweiligen Kinder Kai Höss und Maya Lasker-Wallfisch arrangiert wird.
Der Film bewegt sich zwischen Überlebenden- und Täterfamilie, zwischen Großbritannien und Deutschland, und zwischen Mutter-Tochter und Vater-Sohn. In einer Szene sieht sich Maya, die Tochter der Cellistin von Auschwitz, Kinderfotos von sich an. „Ein unförmiges Kind“, sagt sie, von Geburt an, sei da die alles einnehmende Trauer. Ihre 98 Jahre alte Mutter hat keinen Platz für Sentimentalität, es ist nicht der Modus der Überlebenden. „Traumatisiert? Vergiss es!“, man müsse weitermachen, weiterleben.
Dem gegenüber steht das Nichtredenwollen der Täterseite. So wie Auschwitz ein pars pro toto für die Shoah geworden ist, ist Höß eine greifbare Personalie für die Täterschaft. „Es ist eine Tatsache, eine unbestreitbare Tatsache, dass mein Großvater der größte Massenmörder der Menschheitsgeschichte ist“, sagt sein Enkel.
Hans-Jürgen Höss, gut zehn Jahre jünger als Lasker-Wallfisch, will sich zunächst an nichts erinnern können, keine Geräusche, kein Geruch verbrannter Leichen. Auch habe er die Memoiren seines Vaters nicht gelesen, in denen Höß die Gräueltaten beschreibt. Sie haben aber im Regal gestanden, drängt sein Sohn Kai. In einer Szene wird man Hans-Jürgen Höss beim Lesen sehen.
Die Dokumentation leistet Außergewöhnliches, indem sie beide Seiten der Geschichte zusammenbringt. Und sie triumphiert darin, dass der Sohn von Höß als in sich gebuckelter, nur zu phrasenhaften Apologien fähiger Mann, der eloquenten, furchtlos-pointierten Lasker-Wallfisch gegenübersitzt, die sich nicht scheut, ihm Fragen zu stellen wie: Hassen Sie Ihren Vater? Entschuldigen Sie seine Taten? Er kann nur sagen: weder noch.
Die Dokumentation leistet damit keiner Versöhnungsfantasie Vorschub. Hans-Jürgen Höß scheint sich sichtlich schwer zu tun damit, aus eigener Kraft erfahren zu wollen, was in Auschwitz geschah. Seine Schwester „Püppi“ tritt gar als Leugnerin vor die Kamera.
Den Lasker-Wallfisch-Frauen wird wiederum genug Raum gegeben, zu betonen: Der Antisemitismus ist nicht mit dem Dritten Reich verschwunden. Er hat neue Formen gefunden, er grassiert wieder und, wie Lasker-Wallfisch sagt: Es ist dieser Antisemitismus, mit dem man sich nun beschäftigen muss.
Erinnern ohne Bilder: „Occupied City“

Wie nah und unsichtbar zugleich die Geschichte des Dritten Reichs ist, zeigt die Dokumentation „Occupied City“ von Steve McQueen. Hunderte Adressen in Amsterdam hat der britische Regisseur besucht, die seine Frau Bianca Stiger in einem Atlas zusammengetragen hatte. Es sind Orte, an denen Juden verfolgt wurden, an denen getötet und terrorisiert wurde.
130 Adressen sind schließlich in dem gut vierstündigen Film zu sehen. Er kommt dabei ohne jegliches historische Material aus. Auch keine Wissenschaftler oder Zeuginnen kommen zu Wort. Es wird lediglich die Gegenwart gezeigt, während die Erzählerin Melanie Hyams vorträgt, was passiert ist.
Die Zuschauerin erfährt so Geschichte als mosaikartige Stadtführung, gerafft über zwei Jahre hinweg, beobachtend, wie da Leben sich über die Jahreszeiten in der Stadt entfaltet: an historisch bedeutsamen wie an unscheinbaren Orten und an denjenigen, die abgerissen wurden. „Abgerissen“, sagt die Erzählerin immer wieder.
Daraus entsteht immer wieder eine Unvereinbarkeit von dem, was gesehen und was erzählt wird: Dort, wo Menschen misshandelt wurden, wo sie hungerten, wo sie litten, wird heute gesonnt, gegessen und umarmt. Der Alltag übernimmt die Realität der Lebenden, im Film aber wird deutlich, wie unvereinbar sie eigentlich ist mit der Grausamkeit des Vergangenen.
Geschichte, Mythos, Erzählung
Die Nachfolge-Generation sieht sich damit konfrontiert, die lebendige Verbindung zum Holocaust zu sein, in der sich das Wissen der Eltern zu Geschichte, Mythos, Erzählung wandelt. „Dein Auschwitz ist nicht mein Auschwitz“, sagt Anita Lasker-Wallfisch bezeichnend zu ihrer Tochter. Fiktive wie dokumentarische Filme über die Nachfolgegenerationen lenken den Blick darauf, wie Geschichte und der Holocaust konkret in der Gegenwart und in lebenden Menschen nachwirken.
Ihre Erzählungen sind auf diese Weise weniger mit der Ethik von Darstellungsfragen befasst als damit, die richtigen Zugänge zur Vergangenheit zu finden. Wie der Historiker Raul Hilberg festhielt, werde hierzulande die Shoah vor allem als Auswuchs einer Ideologie wahrgenommen – eine Ideologie, die allzu gern in einer fremden Vergangenheit verortet wird.
„Natürlich kann Auschwitz wieder passieren“, sagt Anita Lasker-Wallfisch. „Sehen Sie sich die Welt an. Wir Menschen verhalten uns immer noch grauenhaft.“