Mit großem Erfolg macht sich das Theater UIm um die Uraufführung von Opern Bühnenwerken des 1939 verstorbenen Komponisten Charles Tournemire verdient. Die Produktion von „La Légende de Tristan“ wurde von der Zeitschrift Opernwelt 2023 zur „Uraufführung des Jahres“ gekürt. Nun folgt Tournemires letzte Oper über den heiligen Franziskus: „Le petit pauvre d‘Assise“.
„Habemus Papam!“ Nach 18 Uhr läuten auch die Glocken des Ulmer Münsters und verkünden nach dem Tod von Papst Franziskus das Ergebnis der Wahl des neuen Oberhaupts der katholischen Kirche. Eine Stunde später ging die Uraufführung eines Meisterwerks aus dem Jahr 1939 am Theater Ulm über die Bühne: Charles Tournemires letzte Oper „Le petit pauvre d’Assise“ über das Leben des heiligen Franziskus.
Der günstige Zufall spielt auch darin eine gewisse Rolle. Denn François lässt das heilige Buch drei Mal an einer zufälligen Stelle aufschlagen, und dreimal erhält er die Antwort, dass die Seligkeit und das Glück des Lebens in der selbstgewählten Armut liege. Der einstmals Reiche gründet einen Orden der Armut und richtet eine heruntergekommene Kapelle wieder her. Das ist auch eine Provokation der prachtsinnigen Kirche in Rom.

Ein Heiliger in ruhigem Beige
Regisseur Kay Metzger zeigt in der ersten Episode die Spiele der Reichen, denen François abschwört. Ein ziemlich abgeschmacktes, verzappeltes Kostümfest, den antiken Musen huldigend, in greller Monochromie, Rot, Rosa und Pink. Reichtum oder Armut ist eben auch eine Frage des Geschmacks. Und so hüllt sich der sich verweigernde, zu sich selbst findende François in schönes Beige.
Auch auf der Bühne von Heiko Mönnich findet entsprechende Abrüstung statt. Übrig bleibt als restaurierte Kapelle ein dreiflügeliger Altar, vor dem sich wie auf einer Bühne auf der Bühne der episodenhafte Bilderreigen aus den Legenden um den Heiligen abspielt.

Kein funktionaler Heiliger
Tournemires Dramaturgie des Nicht-Dramatischen, die Wendung zu einem lyrischen Ritualtheater eines inbrünstigen, nie bigotten Katholizismus ist gewagt, aber genau darauf lässt sich die Inszenierung mit faszinierenden und schön ausgeleuchteten Bildfindungen und Choreografien ein.
Politisch kann in der Sichtweise von Kay Metzger das franziskanische Armutsgelübde auch sein, wenn sich die versprochene Erlösung gegen die sozial-politische Macht wendet, die ebenfalls Gesellschaft reinigen möchte. Denn diese Macht ist eindeutig der italienische Faschismus mit Stiefel, Pluderhose, Schwarzhemd und Faszienaxt.
Wenn François aber bei der Stigmatisierung von seinen Anbetern selbst zum Altarheiligen gemacht wird, dann reißt er hier auch alle Devotionalien von der heiligen Jungfrau, über die Pace-Regenbogen-Flagge bis zum Fridays-for-Future-Logo vom Altar wieder herunter. Ein funktionaler Heiliger ist er eben nicht.

Große Klangsinnlichkeit beim Philharmonischen Orchester Ulm
Musikalisch hat Charles Tournemire die vermeintliche Orgie des Anfangs in neoklassizistisch spröder Kühle angelegt. Das entspricht durchaus dem kompositorischen Stil der Zeit im damaligen Frankreich, aber genau davon entwickelt sich die Partitur nach und nach fort. Klanglich wird es immer reichhaltiger, einem hinter der Bühne zirpenden Cembalo, Orgel, Glockenklang, sattem Blech und Vogelgezwitscher in der Flöte.
Die Gefiederten sind die Lieblingsgefährten des Heiligen. Das Philharmonische Orchester spielt das alles unter der Leitung von Felix Bender mit großer Klangsinnlichkeit und Genauigkeit, stets die Delikatesse von Tournemires partiell kammermusikalisch bis solistisch zugespitzter Stimmführung auskostend.
Sinnlichkeit des Glaubens und sinnliche Erotik
Besonders ungewöhnlich ist die solistisch eingesetzte Viola d’amore, die Bratsche der Barockmusik, die symbolisch für die Erweckung von François, für alles Außerweltliche und die Sinnlichkeit des Glaubens steht. Und sogar für die Erotik. Denn das Liebesbekenntnis des Heiligen zu seiner Gefährtin Claire – von Maryna Zubko mit wohliger Sinnlichkeit verkörpert – ist religiös, wie körperlich.

Kay Metzger zeigt diese Körperlichkeit zurecht, denn darauf folgt die dramatischste Szene der Oper, die Stigmatisierung des Heiligen, als kultisches Theater der Berührung, durch den hier leibhaftig in Erscheinung tretenden Christus als jungen Mann des Alltags.
An diesen Wunden stirbt der Heilige bei Tournemire in einer durch den Arzt verordneten Feuerkur, Todeslust als religiöse Wollust zelebrierend. Der Heilige verschwindet und es folgt ein Epilog mit dem zu Tränen rührenden Trauergesang einer Trompete und entschwindender Streichersüße und -finsternis.
Ein Missing Link der französischen Operngeschichte
Plötzlich hört man, woher wohl die Mischklänge in Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ rühren. Er muss diese Partitur gekannt haben. Hier schließt sich in der Tat eine Lücke in der französischen Operngeschichte. Zwischen Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ ist Tournemires Franziskus-Oper der für Jahrzehnte verschüttetete Missing Link.
Das Theater Ulm hat diese Lücke geschlossen. Nicht zu vergessen: Rund zehn Jahre vor Tournemire plant auch Igor Strawinsky eine Franziskus-Oper. Herausgekommen ist stattdessen „Oedipus Rex“. Wie der Heilige beim Russen geklungen hätte, kann man auch bei Tournemire erahnen.

Theater Ulm in Bestform
Ein Ereignis ist Samuel Levine als François. Er singt die Titelpartie nicht nur ungemein schön, sondern mit lyrischer Ausdrucksmacht. Insgesamt ist das große Ensemble des Hauses stimmlich berückend, um nur so exzellente Mitglieder wie Dae-Hee Shin als Claires Vater oder Markus Francke als François‘ Gefährten Bernard oder I-Chiao Shih als François' umkehrende Bettlerin.
Das Niveau des Theaters Ulm zeigt sich mit dieser Uraufführung in Bestform. Und es ist der Mut zu loben, sich für ein Meisterwerk mit Beharrlichkeit einzusetzen, von dem man bislang nur vom Hören-Sagen etwas wusste, wenn überhaupt. Das sollte sich mit dieser Aufführung hoffentlich gründlich ändern.
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