70 Jahre SWR Vokalensemble

Mit der Stimme sehen

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AUTOR/IN
Dorothea Bossert

Simone Rueß: Farben / Eine Stimme / Stein und Oval

Simone Rueß hat drei Sängerinnen des SWR Vokalensembles befragt, was innerlich in ihnen vorgeht, wenn sie singen. Aus den Antworten wurden Zeichnungen.

SWR Classic: Als wir Sie gefragt haben, ob Sie zeichnerisch ein Portrait des SWR Vokalensembles erstellen, haben Sie sofort zugesagt. Was hat Sie daran interessiert?

Simone Rueß: Ich beschäftige mich in meiner Arbeit damit, wie Raum und Körper in Beziehung zueinander stehen, und wie uns Handlungen und alltägliche Tätigkeiten prägen. Ein Profichor ist da natürlich spannend: Ich wollte erfahren, ob die Sängerinnen während des Singens, sei es solistisch oder im Kollektiv, eine räumliche Erfahrung machen, welche Bilder sie dabei innerlich haben – und was es sozial mit ihnen macht.

SWR Classic: Also ein konzeptioneller Ansatz. Wie sind Sie vorgegangen?

Simone Rueß: Eigentlich hätte ich gerne alle Sängerinnen und Sänger des Chores über einen längeren Zeitraum bei der Arbeit beobachtet und mit jedem Einzelgespräche geführt. Wir hatten aber nicht so viel Zeit. So war ich nur in einem Konzert, habe drei Chormitglieder telefonisch interviewt und diese Gespräche dann in Zeichnungen visualisiert. Wobei Interview eigentlich das falsche Wort ist, treffender wäre: wir haben miteinander verhandelt. Wir mussten uns im Gespräch erst aneinander herantasten: Ich an die individuelle Vorstellung und Sprache der Sängerinnen und die Sängerinnen an ihre Wahrnehmung des Singens in Bildern und daran, was beim Singen räumlich oder sozial passiert.

SWR Classic: Die Bilder sind überraschend. Kamen die visuellen Assoziationen von den Sängerinnen oder von Ihnen?

Simone Rueß: Die kamen von den Sängerinnen und ich habe versucht, sie bildnerisch umzusetzen. Die Sopranistin zum Beispiel hat ganz klare Farbassoziationen beim Singen. Für sie ist mit Sopran die Farbe Gelb assoziiert, wenn sie sich solistisch stärker entfalten kann, geht es vom Gelb ins Orange. Den Bass assoziiert sie mit Blau, der Tenor ist Orange und der Alt Grün. Und wenn der Alt in höherer Lage singt, geht es vom Tannengrün in das frischere Monet-Grün.

SWR Classic: Wie kam es zu dem "Farbregen" bei dem "Sanctus" aus Anton Bruckners e-moll Messe? Haben Sie da gemeinsam Musik gehört?

Simone Rueß: Nein, das Bild hat die Sängerin durch ihre Beschreibung bei mir hervorgerufen. Die Musik habe ich dann später erst angehört.

SWR Classic: Worum ging es in Ihren Gesprächen mit den beiden Altistinnen?

Simone Rueß: In dem zweiten Gespräch ging es um das Verhältnis von Körper, Stimme und Raum. Das war stark aus dem Musikalischen formuliert und ich habe versucht, die Räume und Beziehungen zu visualisieren. Und mit der dritten Sängerin ging es darum, wie sich die Anzahl der Sänger auf ihre inneren Bilder auswirkt. Das Singen in kleiner Besetzung fühlt sich für sie wie ein Stein mit vielen Ecken an, während sie eine große Besetzung z.B. mit Orchester wie ein mit Wasser ausgefülltes Oval empfindet.

SWR Classic: Das waren drei Sängerinnen mit sehr unterschiedliche Bildwelten. Was, glauben Sie, wäre passiert, wenn Sie alle Chormitglieder befragt hätten?

Simone Rueß: Jeder hat eine ganz eigene Bildwelt, da bin ich sicher. Das wäre natürlich schon interessant gewesen, alle Chormitglieder zu befragen. Aber auch so sind Annäherungen entstanden, die sowohl die Chormitglieder als auch die Zuhörer dazu einladen, das Singen, wie auch das Hören zu reflektieren.

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Dorothea Bossert